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Die Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg hat erneut ihre „Top Ten der Zukunftsliteratur“ veröffentlicht. Gemeinsam mit ihrem deutschen Partner changeX kürt sie zehn wichtige deutschsprachige Neuerscheinungen aus den vielen in ihrer Zeitschrift „ProZukunft“ vorgestellten Büchern. Allen Publikationen gemeinsam ist, dass sie „gesellschaftliche Entwicklungen kritisch reflektieren und neue Zukunftsperspektiven eröffnen“.
Die Top Ten des Jahres 2019 wurde nach fünf Kriterien ausgewählt: Gesellschaftliche Relevanz (Aktualität, Dringlichkeit), Innovation (neue Ansätze, Originalität), Lösungsvorschläge (konkrete Handlungsvorschläge, Beispiele), Fakten (wichtige Daten) sowie Lesefreundlichkeit (Zugang für breiteres Publikum, Lesevergnügen).
Die zehn prämierten Titel der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen sind in alphabetischer Reihenfolge:
Suhrkamp, 2019, 259 Seiten, 28,- Euro
Im Privatleben entscheiden die Menschen selbstverantwortlich, in Organisationen aber unterliegen sie mehr oder minder rigider Anweisung und Kontrolle. Auf diesen offensichtlichen Bruch im Freiheitsverständnis moderner Gesellschaften haben Kritiker der herrschenden Form der Unternehmensorganisation vielfach hingewiesen. Aber in der Öffentlichkeit, im politischen Diskurs vor allem, wird über diese Diskrepanz so gut wie nie geredet. Wird stillschweigend akzeptiert, dass Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen beim Eintritt in Organisationen enden.
Das könnte sich nun ändern. Die amerikanische politische Philosophin Elizabeth Anderson fordert in ihrem neuen Buch ein radikales Überdenken des Verhältnisses zwischen privaten Unternehmen und der Freiheit und Würde von Arbeitnehmern. Anderson: „Die meisten modernen Betriebe sind private Regierungen.“ Mehr noch: Es sind „kommunistische Diktaturen in unserer Mitte“. Es ist zu hoffen, dass die Inseln der Unfreiheit mitten in unseren Gesellschaften endlich zum Thema werden.
Murmann 2019, 192 Seiten, 22,- Euro
Unsere Gesellschaft ist unübersichtlich geworden. Scheint irgendwie aus den Fugen geraten. Sie ist schwindelerregend geworden. Das Wortspiel mit dem Begriff „Schwindel“ bildet die verbindende Metapher der Zeitdiagnosen, die der Wirtschaftsethiker Thomas Beschorner in seinem neuen Buch anbietet – in einem doppelten Sinn: Nicht nur die Gesellschaft mit ihren systematischen Schieflagen ist schwindelerregend geworden, ihre Unübersichtlichkeit und Komplexität ruft auch Schwindler auf den Plan, die mit einfachen Antworten die Menschen hinters Licht führen.
Schwindlig machen kann einen auch die Heterogenität der 24 Kapitel des Buchs, die sich wie eine Achterbahnfahrt durch die Gesellschaft lesen. Drei Diagnosen Beschorners stechen hervor: Erstens befinden wir uns in einer Zeit des Übergangs, in der herrschende Ordnungs- und Regelungsprinzipien ihre Gültigkeit verlieren. Zweitens bildet sich ein „neues Ich“ heraus, das jedoch nur eine fluide Identität ist. Drittens braucht es dringend neue Formen gesellschaftlicher Teilhabe, braucht es soziale Experimente, um dieses flatterhafte „neue Ich“ in die Gesellschaft einzubinden und zugleich den Schwindlern Einhalt zu gebieten.
Hanser, 2019, 176 Seiten, 19,- Euro
Heinz Bude vom Hamburger Institut für Sozialforschung widmet sich in seinem neuen Buch dem Thema Solidarität. Anders als Gerechtigkeit, die herzustellen Aufgabe der Politik sei, ist Solidarität für Bude „eine Möglichkeit jedes Einzelnen“. Man könne sich ihr verpflichten, „weil man dadurch sein eigenes Leben reicher und lebendiger macht“.
In zwölf, lose aneinander gereihten Kapiteln widmet sich Bude unterschiedlichen Aspekten von Solidarität. Er spricht von der „Unschuld des Trittbrettfahrers“ im modernen Wohlfahrtsstaat, der Klassensolidarität ebenso erschwere wie eine zunehmend fluider werdende Arbeitswelt der „Teams und Projektgruppen“. Mehrfach rekurriert Bude auf das Wechselverhältnis zwischen dem Sozialstaat „als institutionalisierter Solidarität“ und einer „solidarischen Ökologie des alltäglichen Miteinanders“, das nur aus der Zivilgesellschaft heraus entstehen könne. Bude behandelt die zentralen Zukunftsherausforderungen, die in der Ökologie, der weltweiten Ungleichheit und den wohl weiter zunehmenden Migrationsbewegungen liegen.
Kiepenheuer & Witsch, 2019, 327 Seiten, 22,- Euro
Jonathan Safran Foer hat ein Buch über die klimatischen Auswirkungen von Massentierhaltung geschrieben, welches mit allen Erwartungen bricht, die man an ein Buch über den Klimawandel hat: Anstelle einer Aufzählung von Fakten zum Klimawandel strebt Foer an, uns und sich selbst zum Handeln zu bringen. Dies mit einer Eindringlichkeit, dass man sich seinem Argument kaum entziehen kann, denn tatsächlich: Wir, unser gesamtes Verhalten und hier besonders unser Essverhalten können das Klima jeden Tag weiter zerstören oder ein Stück weit retten. Warum wir letzteres nicht tun? Weil wir in letzter Konsequenz nicht akzeptieren können, dass der Klimawandel uns selbst, unsere Kinder, unsere Zivilisation als Ganzes bedroht.
Ziel des Buches ist, unseren Glauben an die Möglichkeit des Klimawandels zu wecken, und uns damit zum Handeln zu bringen. Foers wichtigstes Anliegen ist das Ende der industriellen Massentierhaltung. Dabei geht es nicht um Verzicht, sondern ums Maßhalten, etwa wenn tierische Produkte nur einmal am Tag genossen werden.
C.H. Beck, 2019. 272 Seiten, 19,95 Euro
In diesem hervorragenden, wichtigen Buch geht es um Algorithmen oder vielmehr: um die Beziehung des Menschen zu ihnen. Fry erklärt kurz und verständlich die Funktionsweisen und Hauptkategorien von Algorithmen, bevor sie die Bandbreite ihrer gegenwärtigen Anwendungsgebiete verdeutlicht. Sie betont die Vorteile der neuen Technologie, weist aber auch dezidiert auf kritische Aspekte hin, mit denen wir uns ob ihrer immensen Tragweite dringend beschäftigen müssen. Es geht um die Übertragung von Verantwortung und die alles entscheidende Überlegung, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.
Unser Umgang mit Algorithmen ist gegenwärtig verbesserungswürdig und er hätte das Potenzial, den technologischen vom gesellschaftlichen Fortschritt gänzlich zu entkoppeln, das macht Fry deutlich. Am Ende ihrer kurzweiligen Ausführungen plädiert sie für eine „Zukunft, in der wir Maschinen nicht mehr als objektive Herren betrachten“.
Droemer Knaur., 2018. 255 Seiten, 10 Euro
Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer liefern eine wunderbare „Anleitung zum Weltretten“. Das Aktivistenduo engagiert sich seit Jahren für Europa, Gerechtigkeit, Demokratie und die Beteiligung junger Menschen an der Gestaltung der Gesellschaft. Mit diesem Buch möchten sie Millennials ermutigen, den Status-quo in Frage zu stellen und Veränderungsprozesse anzustoßen. Dabei berichten sie von ihren Erfahrungen des aktiven Zukunftsgestaltens, erzählen von Erfolgen und Rückschlägen, liefern einen Fahrplan mit Beispielen aus der Praxis, der klar strukturiert ist, komplexe Sachverhalte auf einen einfachen Nenner bringt, anleitet, aber nie belehrt.
Eine optionale 47-Punkte-Liste mit konkreten Formulierungen und alltagsnahen Vorschlägen zeigt, wie sich ein aktives politisches Lebens sofort umsetzen lässt. Auch wenn das Buch an aktuell 20- bis 30-Jährige adressiert ist: Gestaltung von Zukunft funktioniert nur generationsübergreifend, das Buch nimmt niemanden aus und sollte gleich welchen Alters als Handlungsgrundlage verstanden werden.
Hanser, 2019, 221 Seiten, 22,- Euro
Arbeit wird politisch. Sie muss politisch werden, weil sie anders nicht zu retten ist. Denn die Arbeitswelt spielt eine viel zu wichtige Rolle für unsere Gesellschaft, „als dass man sie in Zeiten des digitalen Umbruchs einfach ihrem Schicksal - oder dem ungesteuerten Wirken des freien Markts - überlassen dürfte“. Das ist die These des neuen Buches von Lisa Herzog, das (ebenso wie das von Elisabeth Anderson) die fundamentale soziale Bedeutung von Arbeit in den Mittelpunkt rückt. Arbeit ist mehr als ein lästiges Übel, mehr als ein Mittel zum Geldverdienen, sie ist „eine zutiefst menschliche Angelegenheit“.
Weil Arbeit so essenziell ist, bedarf sie einer Rahmensetzung durch demokratische Politik. Und das bedeutet für Lisa Herzog vor allem: Die Wirtschaftswelt muss demokratisch werden. Ihr Buch ist ein entschiedenes und notwendiges Plädoyer für Demokratie in der Arbeitswelt. Und ein fulminanter, wuchtiger Essay.
C.H. Beck, 2019, 352 Seiten, 26 Euro
Mit der Digitalisierung gibt es offenkundig ein Problem. Denn vieles, was zeitgeistig als „digital“ beschrieben wird, wurzelt genau besehen in längerfristigen Entwicklungen, die in Zeiten zurückreichen, da Computer sich längst noch nicht flächendeckend durchgesetzt hatten. Was war zuerst: die Digitalisierung oder der Wandel der Gesellschaft? Das ist das Thema von Armin Nassehis neuem Buch. Seine These lautet, „dass die Digitalisierung unmittelbar verwandt ist mit der gesellschaftlichen Struktur“. Nassehi will zeigen, „dass die moderne Gesellschaft bereits vor dem Einsatz digitaler Computertechnologien eine digitale Struktur hatte“.
Während vormoderne Gesellschaften bei aller Vielfalt ihrer Ausdrucksformen doch recht einfach strukturiert waren und sich alles, so Nassehi, in ein Oben-unten-Schema fügte, wird Gesellschaft in der Moderne unübersichtlicher. Unterschiedliche Ordnungsformen existieren nebeneinander. An dieser Komplexität der Gesellschaft setzt die Digitalisierung an, indem sie in deren Unübersichtlichkeit Muster erkennt. Damit liegt, so Nassehis Schluss, „die Digitalität der Gesellschaft in ihrer eigenen Struktur und in ihrer Komplexität begründet“.
Ullstein, 2019, 237 Seiten, 18,- Euro
Die Klimawissenschaftlerin Friederike Otto hat ein Buch vorgelegt, welches thematisiert, wie einzelne Wetterereignisse dem Klimawandel zugerechnet werden können. Damit wird es möglich, den Klimawandel konkret sichtbar zu machen. Otto zeichnet die Etablierung dieser sogenannten „Zuordnungswissenschaft“ so spannend wie einen Krimi nach. Dabei erklärt sie auch Grundlagen des Klimawandels und thematisiert die Bemühungen von Politik und Wirtschaft, den Klimawandel kleinzureden oder gar zu leugnen.
Doch ist der Klimawandel nicht für jede Wetterkatastrophe verantwortlich, und die Auswirkungen von Extremereignissen haben oft mehr mit mangelnder politischer Planung, Umweltzerstörung und Korruption als mit dem Klimawandel zu tun. Um den Klimawandel einzubremsen, braucht es einen Systemwechsel, vor allem in den Industriestaaten. Eine große Verantwortung tragen auch globale Konzerne, die maßgeblich zum Klimawandel beitragen.
Campus, 2019, 319 Seiten, 26,95 Euro
Bei Jeremy Rifkin wird der Green New Deal, eine Idee von Thomas Friedman von 2007, zum Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte, zum Aufbruch in eine (nun endlich) nicht-fossile Form des Wirtschaftens. Jedoch ist Rifkins Green New Deal kein bewusst in Gang gesetztes politisches Programm (ganz anders übrigens als in Naomi Kleins in Kürze erscheinendem Buch zum selben Thema). Rifkin denkt von der Ökonomie her. Bei dem kommenden Umbruch handele es sich „weitgehend um eine Äußerung des Marktes“. Seine entscheidende Vorhersage lautet: „Während der nächsten acht Jahre werden Solar- und Windstrom ‚bei Weitem billiger‘ werden als Energie aus fossilen Trägern, was zwangsläufig zu einem Showdown mit dem fossilen Energiesektor führen wird.“ Kurzum: „Die Kohlenstoffblase verspricht die größte ökonomische Blase aller Zeiten zu werden.“
Laut Rifkin hat die große Disruption bereits begonnen: mit der Energiewende in Europa und China. Und weltweit mit dem Rückzug institutioneller Investoren aus den fossilen Energien unter Führung der Pensionskassen. Das Kapital der Arbeiterschaft wird damit zum wichtigsten Treiber der Energiewende.
Die vollständigen Buchbeschreibungen aller honorierten Veröffentlichungen finden Sie im Magazin proZukunft der Robert-Jungk-Bibliothek und in der App proZukunft, die im App-Store und im Google Play Store kostenlos erhältlich ist.
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