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Pflegeheimbewohner hierzulande werden oft in die Notaufnahme oder ins Krankenhaus eingewiesen – zu oft und wesentlich häufiger als im Ausland, legt eine Untersuchung der Universitäten Bremen und Oldenburg nahe. Internationalen Studien zufolge ist ein Großteil dieser Aufenthalte überflüssig bzw. kontraproduktiv. „Dahinter steckt ein strukturelles Problem“, erklärt Mitautor Dr. Guido Schmiemann. Bei der Klinikeinweisung greifen Entscheidungen unterschiedlicher Akteure systembedingt so ineinander, dass es zur Fehlversorgung kommt. Ziel der Untersuchung ist, die Notwendigkeit einer besseren Versorgung von Heimbewohnern aufzuzeigen.
Pflegeheimbewohner sind oft hochbetagt, multimorbid und nehmen verschiedenartige Medikamente ein. Sie weisen fraglos ein erhöhtes Risiko medizinischer Komplikationen auf – doch ist eine Klinikeinweisung schlechthin alternativlos? Die Studie ist Teil des Projektes HOMERN, die Abkürzung steht für „Hospitalisierung und Notaufnahmebesuche von Pflegeheimbewohnern“. Im Fokus steht, wie häufig und warum es zur Einweisung kommt. Dazu wurden Krankenkassendaten der AOK Bremen/Bremerhaven ausgewertet und Hausärzte, Angehörige, Pflegekräfte und Rettungsdienste befragt.
Die Studie analysierte außerdem Krankenhaustransporte aus 14 Pflegeeinrichtungen mit insgesamt 802 Bewohnern in Bremen und Umland. Die Hälfte der Heimbewohner war dement, ein Viertel über 90 Jahre alt. Innerhalb von zwölf Monaten kam es zu 627 Krankenhausaufenthalten, davon 534 ungeplante Einweisungen und zusätzliche Mehrfacheinweisungen. Die Statistik weist durchschnittlich 0,78 Einweisungen pro Bewohnerin oder Bewohner nach.
Die häufigsten Gründe für eine ungeplante Klinikverlegung waren eine Verschlechterung des Allgemeinzustands (35 %) und Stürze, Unfälle oder Verletzungen (34 %). In geringerem Umfang waren auch psychische oder neurologische Auffälligkeiten sowie Katheter-Probleme (7 %) und starke Schmerzen (6 %) maßgeblich, überdies plötzliches Erbrechen und entgleiste Blutwerte. Ein größeres Risiko für ungeplante Krankenhaustransporte haben Männer und Bewohner mit einem höheren Pflegegrad.
Schmiemann, Allgemeinarzt und als Versorgungsforscher an der Studie beteiligt, benennt zentrale Mechanismen der Fehlsteuerung. Da ist erstens „die Umgehung der ärztlichen Perspektive“ im Einweisungsprozess. So war der Hausarzt nur in gut einem Drittel der Fälle (35 %) im unmittelbaren Vorfeld involviert: in 21 Prozent der Fälle per Telefonkontakt und in 14 Prozent durch einen Pflegeheimbesuch. In rund 16 Prozent der Einweisungen hatte der Rettungsdienst zuvor Kontakt mit dem später eingewiesenen Patienten, in 7 Prozent der Bereitschaftsdienst. In der Hälfte der Fälle wurde die Arztpraxis nicht informiert, wenn ein Patient Symptome aufwies.
Hinzu komme, zweitens, die haftungsrechtliche Situation, schildert Schmiemann: „Der Pflegedienst ruft die 112. Der Disponent, der den Anruf entgegennimmt, haftet persönlich für seine Entscheidung, also wird er im Zweifel eher einen Rettungswagen alarmieren. Der wird für Leerfahrten in den meisten Regionen nicht bezahlt, also nimmt er im Zweifel den oder die Bewohnerin des Pflegeheims mit. Das ist ein Automatismus. Wir müssen Wege finden, wie wir da herauskommen.“
Unnötige Krankenhauseinweisungen können fatale Folgen haben: erhöhte Infektionsgefahr und Verwirrtheit des Patienten wegen erschwerter Orientierung in der neuen Umgebung. Hinzu kommen hohe Kosten ohne erkennbaren medizinischen Nutzen. Obwohl keine belastbaren Erkenntnisse darüber vorliegen, wie viele Einweisungen tatsächlich unnötig waren, legen die große Zahl ungeplanter Fälle, die mangelnde Einbeziehung des Hausarztes und der internationale Vergleich die Notwendigkeit eines verbesserten Einweisungsprozesses nahe.
Information und Beratung zwischen Pflegeheim und Hausarzt bedürften der Optimierung: „Die gleiche Akte, den gleichen Medikamentenplan“, schlägt Versorgungsforscher Schmiemann vor. Eine weitere Idee zielt auf die Zusammenlegung der Notrufnummern für Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst (112) und für den ärztlichen Bereitschaftsdienst (116117). Begrüßt wird auch die Neuregelung, Leerfahrten von Rettungswagen zu vergüten. Damit entfalle der Anreiz, Patienten wegen des Honorars zu transportieren und nicht ausschließlich aus medizinischem Bedürfnis. Erwägenswert sei schließlich auch ein medizinischer Back-up für den Rettungsdienst: „Bei Unsicherheiten in der Beurteilung von Notfall-Anrufern kann der Rettungsdienst, bevor er sich auf den Weg macht, mit einem immer verfügbaren Arzt sprechen“, zitiert das Medizinportal Medscape Schmiemann. Dies sei ein sicherer Weg, überflüssigen Klinikeinweisungen von Pflegeheimbewohnern vorzubeugen.
Krankenhausaufenthalte von Pflegeheimbewohnern – Nur weil keiner die Verantwortung übernehmen wollte?, Symposium an der Universität Bremen vom 18. 9. 2019 https://www.public-health.uni-bremen.de/events/
Gemeinsamer Bundesausschuss, Projektbeschreibung Homern: Homern – Hospitalisierung und Notaufnahmebesuche von Pflegeheimbewohnern: Häufigkeit, Ursachen und Entwicklung einer Intervention zur Verbesserung der Versorgung
Studie deckt auf: Viele Pflegeheim-Bewohner landen ohne vorherigen Kontakt zum Arzt (wahrscheinlich unnötig) im Krankenhaus, Medscape, 22. 10. 2019
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