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„Liebe Kinder, die folgende Stunde findet mit freundlicher Unterstützung von Apple, Adidas und McDonald’s statt!“ Der Lehrer als Werbebotschafter, nein, soweit sind wir noch nicht. Aber Schulen hierzulande müssen aufpassen, nicht unmerklich in den Sog weitreichender Lobbyaktivitäten der Wirtschaft zu geraten. Das Spektrum reicht von kostenlosen Lernmaterialien und Referentenbesuchen bis zu gesponserten Schülerlaboren und Schulfesten. Eine aktuelle Studie der Otto- Brenner-Stiftung zeichnet am Beispiel der 30 Dax-Unternehmen Inhalt und Umfang dieser Einflussnahme nach und fordert ein entschlossenes Einschreiten der Schulaufsicht.
Marode Schulgebäude, geringe Anschaffungsetats und immer mehr Quereinsteiger in den Lehrerberuf ebnen üppig ausgestatteten Lobbystrategien von Unternehmen zunehmend den Weg ins Klassenzimmer, moniert Tim Engartner, Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt. Die Firmen setzen beim „Kampf um die Köpfe“ nicht zufällig im Kinder- und Jugendalter an, erläutert der Studienautor: Strategische Ziele wie Imagebildung, Kundengewinnung und Personalrekrutierung sollen möglichst frühzeitig verankert werden.
20 der 30 Dax-Konzerne versorgen Schulen mit kostenlosen Lehr- und Lernmaterialien, die in der vorliegenden Studie erstmalig und exemplarisch für das gesamte schulbezogene Marketing hierzulande untersucht werden. 17 von diesen 20 Dax-Unternehmen nehmen mit ihren Angeboten zusätzlich zur Sekundarstufe auch die Primarstufe, einzelne bereits die Kindergärten, ins Visier. „Die Finanzierung, Entwicklung und zumeist kostenlose Verbreitung von Unterrichtsmaterialien stellen heute das zentrale Vehikel zur Einflussnahme auf den Unterricht dar", schreibt Engartner. Eine Auswahl:
Nicht alle Dax-Unternehmen produzieren eigene Unterrichtsmaterialien, zehn von ihnen sind anderweitig im Schulmarketings aktiv, z. B. durch Kooperationen mit Schulbuchverlagen, Sachspenden, Stipendien, Workshops und Karrieremessen. Insgesamt wird somit am Beispiel der führenden deutschen Unternehmen ein erhebliches Ausmaß des schulbezogenen Lobbyismus deutlich. Nur was folgt daraus? Gewiss stellen manche Materialien und Aktivitäten auch eine von Schüler*innen und Lehrer*innen gerne wahrgenommene Unterstützung dar, für Studienautor Engartner überwiegt dennoch die kritische Einschätzung: „Der ,Schonraum Schule‘ wird damit zum Marktplatz und die Lerninhalte verlieren ihre demokratische Legitimation.“
Anders als Schulbücher unterliegen die Lern- und Lehrhilfen der Konzerne keiner Zulassung durch pädagogische Fachgremien und Schulbehörden – einzig der Lehrer vor Ort entscheidet über die Verwendung. Selbst dort, wo sich Unternehmen mit ausdrücklichen Werbebotschaften zurückhalten, sitzen sie durch die Themenauswahl mit im Klassenzimmer: Die meisten der untersuchten Unterrichtsmaterialien folgen keinem Allgemeinbildungsanspruch, sondern fokussieren Themen der Finanz-, Energie- und Automobilwirtschaft, arbeitet die Studie heraus. Auf den Punkt gebracht: „Materialien zur sozialen Ungleichheit oder zur Wohnraumproblematik stellt kein Konzern zur Verfügung.“ Wenn aber der Unterricht zur marktkonformen Werbeveranstaltung wird, stellt sich zugespitzt die Frage nach der ausgewogenen Konkurrenz der Firmen und Produkte: Welcher Finanzdienstleister oder Autohersteller darf sein Produkt in der nächsten Unterrichtseinheit bestreiten?
Lobbyismus-Forscher Engartner befürchtet angesichts der chronischen Unterfinanzierung des deutschen Bildungssystems eine Zunahme unternehmerischer Einflussnahme auf die Schulen. Zum einen wegen der Digitalisierung, welche die Verbreitung von Unterrichtsmaterialien leicht macht. So sind im Internet der Studie zufolge aktuell bereits 800.000 kostenlose Lehrmaterialien verfügbar, die auch genutzt würden. Zum anderen, weil die Firmen einiges dafür tun, sich selbst unsichtbar zu machen. Sie verbünden sich etwa in Initiativen mit einem neutralen Namen wie „Wissensfabrik“, eine Kooperation von 140 Förderunternehmen unter dem Dach der BASF.
Umso dringender fordert Engartner eine stärkere Regulierung privater Lehr- und Lernmaterialien. So gebe es zwar lobenswerte Beispiele, wie sich Schulen gegen Lobbyeinflüsse wehren, aber Kultus- und Bildungsministerien müssten länderübergreifend eine Kontrollstelle für das Firmenmaterial schaffen und es derselben strengen Prüfung unterziehen wie Schulbücher, schlägt der Forscher vor. „Andernfalls laufen wir insbesondere im Zeitalter der Digitalisierung Gefahr, dass die Institution Schule sich endgültig vom pädagogischen Schonraum zum unternehmerischen Lobbyparkett wandelt.“
Tim Engartner, Wie DAX-Unternehmen Schule machen. Lehr- und Lernmaterial als Türöffner für Lobbyismus, OBS-Arbeitsheft 100, hg. von der Otto-Brenner-Stiftung, Frankfurt am Main, 2019, 80 Seiten, Download
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