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Fragen nach dem Sinn von Leben, Leiden und Tod waren früher Sache der Krankenhausseelsorge. Heute wird das Konzept des Spiritual Care diskutiert. Zum einen, weil die christlichen Religionen ihr Monopol auf sinnstiftende Antworten eingebüßt haben, zum anderen, weil die Befriedigung spiritueller und religiöser Bedürfnisse die Heilung des kranken Menschen unterstützen kann. Was genau meint Spiritual Care, welchen Stellenwert hat sie im System medizinischer Akutversorgung? Die Trendinfo-Redaktion sprach darüber mit Prof. Dr. Arndt Büssing, Arzt und Professor für Lebensqualität, Spiritualität und Coping (Bewältigungstrategien) an der Universität Witten/Herdecke.
Prof. Dr. Arndt Büssing: Das Konzept bezieht sich auf die gemeinsame Sorge der Gesundheitsberufe um die spirituellen Bedürfnisse von kranken Menschen, unabhängig von Religion und kultureller Herkunft. Spiritualität kann sich in einem bestimmten kirchlich-religiösen Glauben oder in einer individuellen Weltanschauung ohne institutionellen Bezug bewegen.
Unsere Forschungen zeigen, dass sich die Menschen hinsichtlich ihrer spirituellen oder religiösen Bedürfnisse unterscheiden. Diese Bedürfnisse treten durch eine persönliche Krise oft deutlicher hervor und kreisen längst nicht nur um Krankheit und Gesundheit. Weit oben steht der Wunsch nach innerem Frieden, danach, mit jemandem über die persönlichen Ängste und Sorgen sprechen zu können. Es geht darum, Lebenserfahrungen weitergeben zu können, die Gewissheit zu haben, dass das eigene Leben sinn- und wertvoll ist. Häufig kommt es dazu, Krisen der eigenen Biografie, persönliche Beziehungen zu Mitmenschen zu reflektieren. Es sind allesamt Bedürfnisse, die in hohem Maße eines zuhörenden Gegenübers bedürfen, eines vertrauten und kompetenten Mitmenschen.
Spiritualität ist für viele Patienten, auch für Personen ohne kirchlichen Anschluss, eine wichtige Ressource, die ihnen hilft, mit ihrer Krankheit besser umzugehen, sie verkörpert das Bedürfnis nach Rückbindung, nach Entlastung und Bewältigung in einer speziellen Belastungssituation. Dies hat immer auch mit Hoffnung zu tun.
Die Erwartungen an die „Heilkraft Spiritualität“ sind natürlich hoch. Das lässt sich bereits an den vielen Schicksalsberichten und Ratgeberbüchern ablesen, welche die Hoffnung auf eine therapeutische Wirkung von Glauben und Spiritualität nähren. Sicher ist, dass spirituelle Aktivitäten wie Beten, Meditation und Vertrauen in Gott mentale Zustände der inneren Ruhe, des Loslassens und der Gewissheit fördern, die der Heilung zugute kommen können. Aber Spiritualität lässt sich eben nicht auf Rezept verordnen und auch nicht instrumentalisieren, so dass Heilung als Endprodukt herauskommt.
Menschen, bei denen der Glaube eine Herzensangelegenheit ist, also große Bedeutung hat, werden ihr Leben anders wahrnehmen, und sie sind vielleicht auch eher zu positiven Verhaltensänderungen in der Lage. Achtsamer Umgang mit dem Leben, größere Wertschätzung von Chancen und das Wissen um Geborgenheit schaffen eine besondere Lebensqualität, selbst wenn die Krankheit noch nicht besiegt ist oder auch nicht zu besiegen sein sollte.
Ein Krankenhausaufenthalt etwa stellt für den Patienten eine Ausnahmesituation dar ¬– mitunter beängstigend, bedrohlich, voller Ungewissheiten. Er benötigt über die medizinische Versorgung hinaus Ansprechpartner, die ihm seine Fragen beantworten und Ängste nehmen. Spirituelle Überzeugungen beeinflussen das Erleben und die Deutung von Krankheit und Heilung. Wenn diese Aspekte in der Begleitung berücksichtigt werden, wird der Patienten nicht nur auf seine Symptomatik reduziert – und er wird sich als umfassender und wertschätzend betreut empfinden. Das trägt zu einer besseren Lebensqualität bei
Ja, ganz erheblich! So äußerten in einer US-Studie 72 Prozent der Krebspatienten, dass ihre spirituellen Bedürfnisse innerhalb des Gesundheitssystems zu wenig oder gar nicht berücksichtigt werden. Bei einer Befragung von Schmerzpatienten in Deutschland kam heraus, dass 20 Prozent niemanden zum Sprechen haben, 37 Prozent sich an ihren Arzt wenden und 23 Prozent an den Pfarrer bzw. Seelsorger. Da stellt sich die Frage, wer sich eigentlich um das ungestillte Bedürfnis nach spiritueller Zuwendung kümmert. Angehörige, Psychologen, externe Dienstleister? Ein Problem, das übrigens auch das Krankenhaus-Strukturgesetz ganz ausdrücklich aufgreift, indem es die Patientenzufriedenheit als einen Teil der Behandlungsqualität fokussiert.
In unserem Gesundheitssystem ist der Arzt für die spirituelle Thematik scheinbar nicht zuständig, er ist ja Experte seiner medizinischen Disziplin. Die Psychologen kümmern sich vornehmlich um die psychische Seite des Patienten, und für die Seele ist Seelsorger zuständig. Dorthin, so empfinden es vielen Patienten, wollen sie doch – noch – gar nicht. Spiritualität und Religiosität werden in der Medizin somit auf den Aspekt der „letzten Hoffnung“ reduziert. Interessanterweise ist das Thema ja auch insbesondere in der palliativen Situation etabliert, kaum jedoch in den frühen Phasen chronischer Krankheit.
Selbstverständlich gibt es professionelle Seelsorge. Aber was wäre darüber hinaus möglich? Das ohnehin schon gestresste Personal wäre unter den gegenwärtigen Bedingungen sicher überfordert, auch noch diese Arbeit übernehmen zu müssen. Aber es ist eine interessante Überlegung, unter welchen Voraussetzungen die spirituelle Fürsorgearbeit zum Beispiel auch für das Pflegepersonal eine Ressource wäre. Denn die Ökonomisierung ihres Berufes fördert bei den Beschäftigten die Sehnsucht nach einer sinnvollen und ganzheitlichen Aufwertung ihrer Tätigkeit. Pflegearbeit, die auch Elemente der spirituellen Fürsorge einschließt, kann durchaus entlastend sein. Hierfür können und sollten Freiräume geschaffen werden, weil es dem Krankenhausträger zum Beispiel ein Anliegen ist, dass seine Patienten umfassend und gut begleitet werden.
Zunächst einmal ist es wichtig anzuerkennen, dass dieses Themenfeld für viele Menschen wichtig ist, auch wenn man selber diese Überzeugungen nicht unbedingt teilt. Und natürlich, dass es im Gesundheitssystem überhaupt vorkommen darf, und nicht nur, wenn es um Sterben und Tod geht. Aus Gründen der Neutralität oder Unsicherheit vermeiden viele Ärzte solche Themen oft. Dementsprechend sind Fort- und Weiterbildungsangebote wichtig, die die Scheu nehmen und eine größere Selbstverständlichkeit mit diesem Bereich ermöglichen. Die Forschung in dem Bereich findet ja bereits statt, wird aber meines Erachtens nicht handlungskonsequent in die medizinische Praxis überführt.
Gut wäre eine ausdrückliche Verankerung in den Behandlungsplänen, aber nicht nur in der Palliativmedizin. Spirituelle Bedürfnisse in einem umfassenderen Sinne kommen auch bei a-religiösen Menschen vor, auch bei älteren Menschen in Altenheimen, bei Personen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen. Wenn man genau hinschaut, dann finden sie sich auch bei scheinbar Gesunden, die vielleicht durch die Krankheit ihres Kindes, ihres Partners oder ihrer Eltern belastet sind. Ob man hier überall angemessen unterstützen kann und will, ist eine andere Frage. Aber wir kommen nicht daran vorbei, dass dieses Themenfeld eine gesellschaftliche Bedeutung hat, die über kirchliche Institutionen hinausgeht. Wie wir darauf als plurale Gesellschaft antworten wollen, muss gründlich bedacht werden.
Prof. Dr. Arndt Büssing ist Arzt und Professor für Lebensqualität, Spiritualität und Coping an der Universität Witten/Herdecke.
Weitere Informationen:
Kristin Härtl / Andreas Beivers / Arndt Büssing u. a., Vortrag beim 18. DRG-Forum in Berlin, Spirituelle Bedürfnisse von Patientinnen, Patienten und deren Angehörigen in der Notfallaufnahme. Spiritual Care Kompetenz von ärztlichen und pflegenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, München 2019 (Power-Point-Präsentation von den Autoren zur Verfügung gestellt)
Arndt Büssing / Janusz Surzykiewicz / Zygmunt Zimowski (Hrsg.): Dem Gutes tun, der leidet. Spiritualität in der Behandlung und Begleitung kranker Menschen – Interdisziplinäre Perspektiven. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg 2015 (ISBN: 978-3-662-44278-4)
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