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Das Thema „Einsamkeit im Alter“ rückt immer mehr in den Fokus von Politik und Forschung: So stand die diesjährige Kongressmesse ConSozial, nach eigenem Bekunden Deutschlands größtes Branchenereignis, unter dem Motto „Gemeinsam statt einsam – Sozialen Zusammenhalt stärken". Ein Forschungsprojekt der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt analysiert derzeit für das bayerische Sozialministerium den aktuellen Stand zum Thema. Politiker der SPD und CDU haben sich in den vergangenen Monaten wiederholt für einen Bundesbeauftragten für die Belange einsamer Menschen stark gemacht. Und die CDU-Fraktion im Berliner Parlament forderte kürzlich in einen Antrag an den Senat einen Einsamkeitsbeauftragten für das Land Berlin. Was können Städte und Kommunen tun, um dem Problem der Einsamkeit ihrer alternden Bevölkerung zu begegnen? Fünf alltagsnahe Handlungsempfehlungen hat jetzt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung gemeinsam mit der Körber-Stiftung in dem Diskussionspapier „(Gem)einsame Stadt – Kommunen gegen soziale Isolation im Alter“ vorgelegt.
Fast elf Prozent der älteren Menschen (60+) in Deutschland leiden an Einsamkeit, geht aus einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) hervor, die in der BFS-Trendinfo 8/2019 vorgestellt wurde. Weil es in Zukunft mehr Ältere geben wird – mit den Babyboomern steht gegenwärtig fast ein Drittel der Bevölkerung vor dem Ruhestand – wird auch das Problem der Einsamkeit zunehmen. Orte der Begegnung, geeignete Wohnformen und mehr Teilhabemöglichkeiten hingegen können vor Einsamkeit und sozialer Isolation schützen.
Gefragt: Lösungen vor Ort
Den Kommunen komme daher hier eine zentrale Rolle zu, sind die Autoren des Diskussionspapiers überzeugt: „Da Kommunen Angebote für Begegnung und Teilhabe vor Ort bieten können, sind sie die Schlüsselakteure bei der Bekämpfung von Einsamkeit ihrer älteren Bewohner und Bewohnerinnen“, so Karin Haist, Leiterin der Projekte demografische Zukunftschancen der Körber-Stiftung. „Sie können damit die Lebensqualität des Einzelnen erhöhen und zugleich Kosten für die Gemeinschaft senken, denn Einsamkeit beschleunigt nachweislich Erkrankungen und frühere Pflegebedürftigkeit.“
1) Strategie entwickeln: Einsamkeit enttabuisieren und Verwaltung und lokale Organisationen sensibilisieren
„Altersfreundlich zu sein, bedeutet mehr als Sitzbänke oder Aufzüge im öffentlichen Raum zu schaffen. Wichtig ist, ältere Menschen gesellschaftlich einzubinden“, heißt es in dem Diskussionspapier. Das Thema Einsamkeit müsse durch Kampagnen und Veranstaltungen aus der Tabuzone geholt werden. Dazu seien Bürgerbefragungen ein zentrales Element: Wie leben Ältere in der Kommune und was brauchen sie? Besondere Risikogruppen wie Hochaltrige und Pflegeheimbewohner sollten dabei besonders in den Blickgenommen werden.
2) Wohnen „mit Anschluss“ fördern
Kommunen haben zwar keinen Einfluss auf die private Wohnungswirtschaft, sie können aber bei der Quartiersentwicklung oder beim Wohnungsbau wichtige Weichen stellen: zum Beispiel durch Gemeinschaftsangebote und Begegnungsstätten. Konkrete Maßnahmen könnten sein, mehr kleine Wohnungen in zentraler Lage anzubieten, bei Neubauten immer auch Gemeinschaftsräume einzuplanen und generationsübergreifendes Wohnen zu fördern.
Als Beispiel nennen die Autoren das Modellprojekt LeNa Hamburg – lebenslanges Wohnen in lebendigen Nachbarschaften. LeNa ist eine eingetragene Marke der SAGA Siedlungs-Aktiengesellschaft Hamburg und wird derzeit an drei Standorten in der Stadt umgesetzt. Es bietet selbstbestimmtes Wohnen in der eigenen Mietwohnung, Versorgungssicherheit durch vor Ort flexibel abrufbare Dienstleistungen und ein nachbarschaftliches Miteinander. Zentrale Anlaufstellen sind ein Nachbarschaftstreff, ein Nachbarschaftsbüro und ein Quartiersbüro. Eine Betreuungspauschale muss nicht gezahlt werden.
3) Soziale Partizipation ermöglichen: Gute Rahmenbedingungen für Engagement schaffen und Selbstorganisation fördern
Wer sich engagiert, ist weniger einsamkeitsgefährdet. Kommunen sollten daher Freiwilligenbörsen etablieren und neue Angebote zur Teilhabe schaffen. Als Best-practice-Beispiele werden das Hamburger SeniorPartner Diakonie-Projekt und die Berliner Initiative Silbernetz mit ihrer Hotline für einsame ältere Menschen genannt.
4) Öffentliche Orte für Begegnung gestalten und Mobilitätsangebote schaffen
Wo Begegnungsorte im öffentlichen Raum fehlen, werden Menschen isoliert. „Besonders finanziell Schwächeren fehlen oft Orte, an denen sie ohne Konsumzwang unter Leute kommen.“ Vorhandene Infrastruktur wie Bibliotheken, Sportstätten oder Supermärkte könne dafür gut genutzt werden. „Als Faustregel gilt, dass Begegnungsorte von den Bürgerinnen und Bürgern in maximal 20 Minuten erreichbar sein sollten, um auch für Ältere attraktiv zu sein.“ Eine Idee sind multifunktionale Geschäfte mit Einkaufsmöglichkeiten, Café, Bücherecke, Behördenfunktion und einem Saal für Tagungen, Kulturveranstaltungen oder private Familienfeiern – wie sie beispielsweise das DORV-Konzept (Dienstleistung und Ortsnahe Rundum Versorgung) schon in mehreren Städten und Gemeinden umsetzt.
5) Aktiv informieren, sensibel kommunizieren: Infomaterial bereitstellen und Angebote nicht explizit als Einsamkeitsprävention vermitteln
Kommunen könnten ihren älteren Mitbürgern zum Renteneintritt oder bei runden Geburtstagen entsprechendes Infomaterial zu Teilhabeangeboten schicken oder auf Wunsch auch Hausbesuche abstatten. Ärzte sollten ermuntert werden, einsamen älteren Menschen soziale Angebote zu „verschreiben“ – hier verweisen die Autoren auf das erfolgreiche Social Prescribing-Projekt in der englischen Stadt Rotherham.
Ein besonderes Kapitel ist der Stadt Aarhus gewidmet. Die zweitgrößte dänische Stadt (277 000 Einwohner) hat sich im Kampf gegen die Einsamkeit einiges einfallen lassen: Ärzte und Apotheker dürfen hier (mit Einverständnis der Betroffenen) Kontaktdaten an das für Ältere zuständige Health and Care Department weiterleiten. Zum 75. Geburtstag erhält jede Bürgerin und jeder Bürger per Post das Angebot zu einem Hausbesuch durch einen städtischen Mitarbeiter.
Es gibt eine Onlineplattform für selbstorganisierte Kontakte (genlydaarhus.dk), daneben laden in der ganzen Stadt 38 „analoge“ Zentren zur Begegnung ein. Auch neue Wohnkonzepte werden ausprobiert – beispielsweise das Generationernes Hus, ein mehrstöckiges Mehrgenerationenhaus mit 304 Wohnungen, bei dem durch gemeinschaftliche Räume viele Möglichkeiten für zufällige Begegnungen bestehen.
Mit dem DokkX hält das Health and Care Department außerdem ein eigenes Zentrum für Hilfstechnologien vor: Dort können Interessierte alles Mögliche ausprobieren – Treppenlift, Rollator, Epilepsiewecker, Musikkissen, Virtual Reality oder sprechende Trinkbecher. Wer nicht mehr so mobil ist, bekommt die Hilfsmittel ins eigene Quartier gebracht. Toller Nebeneffekt: Vor Ort ist eine lebendige Technik-Start-up-Szene entstanden.
(Gem)einsame Stadt? Kommunen gegen soziale Isolation im Alter, Fakten, Trends und Empfehlungen für die Praxis von Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und Körber-Stiftung, 2019, 24 Seiten, Download
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