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Wenn hierzulande von Pflegenotstand die Rede ist, geht es meist um den Fachkräftemangel. Gefahr droht aber noch aus einer anderen Richtung: Viele der 2,5 Millionen pflegenden Angehörigen sind nicht länger frag- und klaglos zum aufopferungsvollen Dienst in der Familie bereit. Hier besteht dringender Handlungsbedarf, damit „der größte Pflegedienst der Nation“ nicht ins Wanken gerät. Wie ernst die Lage ist und was jetzt getan werden muss, verrät der neue Barmer-Pflegereport.
185.000 pflegende Angehörige (7,4 %) stehen kurz davor, hinzuschmeißen, 164.000 (6,6 %) wollen nur mit vermehrter Hilfe weitermachen, stellt der Report fest. „Wir können es uns nicht leisten, auf deren Dienste zu verzichten, weil sie an ihre Grenzen kommen, sich alleine gelassen fühlen, weil sie körperlich und psychisch völlig erschöpft sind“, kommentiert Barmer-Vorstand Prof. Christoph Straub eine repräsentative Befragung (1.900 Teilnehmer; 2017) zum Thema. Von den 2,5 Millionen Hauptpflegepersonen sind 38 Prozent (942.000 Personen) über 70 Jahre alt und 18 Prozent (435.000 Personen) unter 50 Jahre. Zwei Drittel sind Frauen (1,65 Mio.).
Die Belastung wird daran deutlich, dass ein Drittel aller pflegenden Angehörigen erwerbstätig ist und jeder Vierte seine Arbeit bereits reduziert oder ganz aufgegeben hat. Nicht verwunderlich: 85 Prozent der Betroffenen sind tagtäglich im Einsatz, die Hälfte mehr als zwölf Stunden. Normalerweise müssen mehrere Aufgaben erledigt werden, etwa Medikamentenversorgung, Unterstützung bei Essen, Mobilität und Toilettengang. Deutlich mehr als die Hälfte der Pflegenden sieht keine Möglichkeit, sich für längere Zeit vertreten zu lassen.
88 Prozent der pflegenden Angehörigen kommen nach eigener Auskunft „meistens oder immer gut zurecht“, äußert Studienautor Prof. Heinz Rothgang von der Universität Bremen. Hinter dieser zunächst sehr positiven Selbsteinschätzung stehen erhebliche Beeinträchtigungen. 38 Prozent klagen über Schlafmangel, 30 Prozent fühlen sich in ihrer Pflegerolle gefangen, 20 Prozent empfinden ihre Arbeit als zu anstrengend. Häufig genannt wurden auch die Beeinträchtigung von Freundschaften sowie Zukunfts- und Existenzängste. Hinzu kommt: Pflegen macht krank. 55 Prozent haben Rückenschmerzen, 49 Prozent leiden unter psychischen Störungen – die Hauptpflegepersonen sind kränker als altersgleiche Angehörige ohne Pflegetätigkeit und werden schneller krank.
Wer Unterstützungsangebote wie etwa Kurzzeit- oder Verhinderungspflege, Haushaltshilfe oder Reha-Kur angenommen hat, bewertet sie höchst positiv, ermittelte der Report. Angehörige, die solche Leistungen hingegen nicht in Anspruch nehmen, geben oft an, keine Kenntnis davon zu haben oder sie nicht zu brauchen. Ablehnung gründet sich oft auf Kritik: auf zu „geringe Qualität“, „zu teuer“, „kein Angebot“, „zu viel Organisation“ und „passt zeitlich nicht“. Auffallend, dass höher belastete und kränkere Pflegende die Leistungen schlechter bewerten als weniger belastete und gesündere Personen.
„Hier wird ein Bedarf deutlich, der aber aus Gründen der Angebotsstruktur oder des Aufwandes nicht befriedigt werden kann“, erklärt Gesundheitsökonom Rothgang. Viele pflegende Angehörige sind folglich unterversorgt: bei der Tagespflege 378.000 (15 %), beim Pflegedienst 188.000 (8 %), bei der Kurzzeitpflege 437.000 (18 %) und bei Betreuungs- und Haushaltshilfen 379.000 Personen (15 %).
Deutlich wird: Um pflegenden Angehörigen wirklich unter die Arme zu greifen, müssen Unterstützungsbedarf und -angebot weitaus besser in Einklang gebracht werden. Der Pflegereport ergibt ein klares Bild gewünschter Prioritäten bei den Befragten. Ganz oben stehen:
Diese Zahlen spiegeln einen riesigen Aufklärungs- und Unterstützungsbedarf wider. Die Barmer hält mit eigenen Maßnahmen nicht hinter dem Berg: zum Beispiel mit dem Seminar „Ich pflege – auch mich“, in dem Teilnehmer lernen, sich trotz stressigem Pflegealltag selbst zu entlasten. Der Report bekräftigt die Absicht der Politik, Kurzzeit- und
Verhinderungspflege in einem jährlichen Entlastungsbudget für Pflegebedürftige zusammenführen. „Die Entlastungsleistungen von aktuell 125 Euro monatlich sollten ebenfalls in ein jährliches Entlastungsbudget einbezogen werden.“ Damit ließe sich der Eigenanteil reduzieren.
Traurig eigentlich, doch wenn es um Pflege geht, ist der Mangel ganz nah. Das beschreibt neben dem aktuellen Barmer Pflege-Report auch der kürzlich veröffentlichte DAK-Pflegereport 2018. Der Schwerpunkt liegt auf der Heimkosten-Belastung für Pflegebedürftige und deren Angehörige: 60 Prozent der befragten Bürger befürchten, mit dem Einzug in ein Heim zum Sozialfall zu werden. Kritisch wird auch der unterschiedliche hohe Eigenanteil gesehen (Bundesdurchschnitt: 600 Euro; Thüringen: 240 Euro, Berlin: 870 Euro). Als Ausweg schlägt der Report, von Pflegewissenschaftler Thomas Klie von der Evangelischen Hochschule Freiburg verfasst, eine Reform der Pflegefinanzierung vor. Demnach sollte – genau andersherum als bisher – der Eigenanteil gedeckelt und der darüber hinaus gehende Kostenanteil von der Pflegeversicherung übernommen werden. Ein Bundeszuschuss aus Steuermitteln soll die anfallenden Mehraufwendungen tragen.
Barmer-Pflegereport 2018. Heinz Rothgang / Rolf Müller, Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse, Bd. 12, Download
DAK-Pflegereport 2018. Pflege vor Ort – Gelingendes Leben mit Pflegebedürftigkeit, Thomas Klie, Beiträge zur Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung, Bd. 25, Download
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