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Als Mouna Jenayah (33) zum ersten Mal vom Kiosk hörte, dachte sie nur an Chips, Limo und Zigaretten. Bis sie eines Tages davor stand und die Tür aufging: der Gesundheitskiosk im Hamburger Stadtteil Billstedt, ein kleiner Laden mittendrin, gleich neben dem Einkaufszentrum. Ein bundesweit vielbeachtetes Modellprojekt, doch deshalb war die tunesischstämmige Frau nicht hier. Sie erhoffte sich Rat und Hilfe im Kampf gegen ihr Übergewicht, andernfalls sah sie ihren Kinderwunsch gefährdet. Nach eingehender Beratung durch eine Gesundheitsexpertin stand ihr persönlicher Fahrplan in Richtung Wunschgewicht fest: Ernährungsumstellung, ein spezieller Krankenkassen-Abnehmkurs, Austausch in einer Selbsthilfegruppe. Das Programm war flankiert von Folgeberatungen im Gesundheitskiosk und Checks beim Arzt.
Niedrigschwellig, kostenlos, ohne vorherige Anmeldung: Der hierzulande erste Gesundheitskiosk befindet sich gezielt dort, wo es um die Primärversorgung schlecht steht – in den sozial benachteiligten Hamburger Stadtteilen Billstedt und Horn mit zusammen 108.000 Einwohnern. Hier sind besonders viele Menschen krank, wohnen überdurchschnittlich viele Sozialhilfeempfänger, Migranten und Alleinerziehende, kommen mehr als doppelt so viele Einwohner auf einen Arzt wie in den anderen Stadtteilen. „Dabei ist erwiesen, dass Menschen in ärmeren Stadtteilen rund zehn Jahre früher an Diabetes, Asthma, Herz- oder Lungenleiden erkranken“, beschreibt Vorstand Matthias Mohrmann von der AOK Rheinland/Hamburg die Situation.
Angesichts übervoller Praxen ist es für Ärzte oft schwer, den vielen unzureichend Deutsch sprechenden Menschen umfassende Aufklärung zuteil werden zu lassen. Im Gesundheitskiosk sprechen medizinisch geschulte Mitarbeiter neben Deutsch die von der Klientel am häufigsten genutzten Sprachen, darunter Türkisch, Russisch, Polnisch, Spanisch, Dari und Farsi. Sie erläutern Arztberichte und Therapieanweisungen, informieren über Präventionsprogramme und beantworten Fragen etwa zu Abnehmen, Schwangerschaft und Rauchentwöhnung.
Damit sieht sich die Ärzteschaft spürbar unterstützt, wie der niedergelassene Facharzt Dr. Gerd Fass, einer der Initiatoren des Projekts, erläutert: „Die Beratungen erhöhen die Wirkung unserer ärztlichen Empfehlungen und unterstützen die Patienten nachhaltig bei der Verhaltensänderung.“ Zusätzlich stellt der Gesundheitskiosk die Vernetzung mit rund 100 Stadtteileinrichtungen her – Altenheime, Selbsthilfegruppen, Reha-Anbieter, Sportvereine, Beratungsdienste.
Träger des Gesundheitskiosks ist die „Gesundheit für Billstedt/Horn UG“, zuständig für das regionale Gesundheitsmanagement, ein Team aus Ärzten und Gesundheitsexperten. Hauptgesellschafter ist das Ärztenetz Billstedt-Horn e. V. (60 % Gesellschafteranteil), in dem mittlerweile fast die Hälfte der 120 niedergelassenen Ärzte beider Stadtteile zusammengeschlossen sind, die OptiMedis AG (30 %), die SKH Stadtteilklinik Hamburg GmbH und der NAV Virchow-Bund (jeweils 5 %). Die Konsortialpartner AOK Rheinland/Hamburg, Barmer und DAK bringen in Billstedt und Horn rund 52.000 Versicherte ein, das Institut für Allgemeinmedizin und Poliklinik des UKE schult die Mitarbeiter. Der Gesundheitskiosk wird vom Innovationsfonds aus Mitteln der Gesetzlichen Krankenkassen mit 6,3 Millionen Euro gefördert, die Evaluation obliegt Prof. Jonas Schreyögg vom Hamburg Center for Health Economics (HCHE) an der Universität Hamburg.
Seit seiner Gründung im Herbst 2017 verzeichnete der Gesundheitskiosk mehr als 3.000 Beratungen. Für die AOK Rheinland/Hamburg steht das Projekt für den „Aufbruch in ein neues Denken innerhalb unserer Gesundheitssystems“, weil er den Patienten durch gemeinsames Handeln bedarfsgerechte Hilfe direkt vor Ort biete. Damit nicht genug: „Vorrangiges Ziel ist die Förderung der Eigenkompetenz von Patienten. Damit werden die Ärzte entlastet und längerfristig die Behandlungskosten für die Krankenkassen gesenkt.“
Das neuartige Versorgungskonzept kann sich auf international erprobte Vorbilder berufen: den finnischen Terveyskioski und die Retail Clinics in den USA. Letztere sind in Einkaufszentren, Supermärkten und Drogerien erreichbar. Nach dem Walk-in-Prinzip bieten sie niedrigschwellig Beratung, Primärversorgung und Lotsendienste. Beispiel für eine Retail Clinic ist der Ableger der weltbekannten Mayo Clinic in Amerikas größtem Einkaufszentrum in Minnesota mit gut 520 Shops, die „Mayo Clinic Healthy Living“.
Ein gutes Jahr nach dem Start sehen die Verantwortlichen den Gesundheitskiosk gut im Plan. „Wir haben es geschafft, innerhalb von nur einem Jahr ein Netzwerk zwischen unterschiedlichsten Akteuren aufzubauen, das in dieser Form im Gesundheitswesen neu ist“, gibt sich Alexander Fischer, Geschäftsführer der „Gesundheit für Billstedt/Horn UG“ selbstbewusst. Das Projekt eignet sich auch als Modell für andere Problemviertel und -regionen hierzulande. Die beteiligten Krankenkassen haben bereits Interesse an der Fortführung über 2019 hinaus signalisiert. Doch noch sind Wünsche offen: Fischer wünscht sich für den Gesundheitskiosk weitere kooperierende Ärzte und Krankenkassen.
Mouna Jenayah blickt regelrecht erleichtert in die Zukunft: Von einstmals fast 130 Kilogramm Körpergewicht steht sie aktuell kurz vor der magischen Hundert.
Arm und krank – Das unfaire Gesundheitssystem, TV-Doku von Klaus Balzer, NDR, vom 27. November 2017, 45 Minuten (abgerufen am 15.11.2018)
Mehr Infos zum „Gesundheitskiosk“
www.gesundheit-bh.de
www.gesundheitskiosk.de
Zu den Pionierprojekten in Finnland und den USA:
Ärzte Zeitung, 24.10.2012 (abgerufen am 09.11.2018)
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