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Sie ist ja nicht neu, hat aber derzeit wieder Hochkonjunktur: die Rede von den abgehängten Regionen des deutschen Ostens. Kein Zufall, schließlich erleben wir gegenwärtig eine Serie wichtiger Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und in Kürze in Thüringen. Schrumpfende Bevölkerung, niedriges Wirtschaftswachstum und verödende Innenstädte schüren Verdrossenheit und Perspektivlosigkeit. Doch die objektive Lage kann von der subjektiven Wertschätzung für die Region, in der man lebt, durchaus abweichen, belegt der Teilhabeatlas 2019 für Ost- und Westdeutschland gleichermaßen. Dazu greift die Untersuchung eine provokante Frage auf: Sollen tatsächlich überall gleiche Lebensverhältnisse hergestellt werden, wie es Politiker gerne versprechen?
Anhand zahlreicher Kriterien hat das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung zusammen mit der Wüstenrot-Stiftung die Teilhabechancen in den 401 Landkreisen und kreisfreien Städten Deutschlands mittels statistischer Daten untersucht: Wie hoch sind die Haushaltseinkommen, wie steht es um Arbeitsplätze und bezahlbaren Wohnraum, wie gut ist die Versorgung mit Schulen, Ärzten, Supermärkten und schnellem Internet? Das Ergebnis überrascht nicht wirklich: Wie gut die Menschen hierzulande am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, hängt maßgeblich davon ab, wo sie wohnen.
Viele ostdeutsche Landkreise finden sich in den bundesweit schlechtesten Teilhabe-Clustern wieder. Eine Abwärtsspirale aus Abwanderung und schrumpfender Infrastruktur prägt das Bild. Nur in den Speckgürteln weniger attraktiver Städte sieht es besser aus. Auch in den alten Bundesländern herrscht nicht überall eitel Sonnenschein, etwa in großen Teilen des ehemaligen Zonenrandgebietes, in Teilen von NRW und von Mittel- und Nordhessen. Einige Städte in Westdeutschland, vor allem im Ruhrgebiet, im Südwesten von Rheinland-Pfalz, im Saarland sowie in Niedersachsen und Schleswig-Holstein hängen ebenfalls zurück. Duisburg oder Gelsenkirchen etwa rangieren bei Hartz-IV-Bezug und Kinderarmut hinter dem boomenden Leipzig.
Der Teilhabeatlas zeichnet in Karten und Zahlen erhebliche Unterschiede der Lebensverhältnisse zwischen Nordsee und Thüringer Wald nach. Außerdem beschäftigt sich die Untersuchung mit der subjektiven Wahrnehmung der Bürger. „Ziel war zu erfahren, wie die Menschen selbst ihre Situation vor Ort einschätzen“, ob messbare und gefühlte Teilhabechancen deckungsgleich sind. Für diese Erhebung wählten die Forscher deutschlandweit 15 Regionen aus und sprachen in 300 Einzelinterviews und Gruppengesprächen mit Politikern, Amtsträgern und normalen Bürgern. Einige interessante Trends:
Die Studienautoren erteilen dem zentralen Ziel der Bundesregierung, überall im Lande gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, eine Absage. Es sei fraglich, ob sich wirtschaftliches Wachstum und eine Stabilisierung der Bevölkerungszahlen in angeschlagenen Räumen selbst mit viel Geld erzwingen lassen. „Damit weckt sie (die Bundesregierung, d. Red.) Erwartungen, die sich kaum erfüllen lassen und programmiert Enttäuschungen und weitere Frustrationen." Mehr noch: „Besser wäre es, regionale Unterschiede, die sich beim besten Willen nicht beseitigen lassen, zu akzeptieren und die natürliche Vielfalt der Lebensbedingungen zur Grundlage des Zusammenlebens zu machen.“
Der Staat, so empfehlen die Autoren, solle vielmehr einen „Ordnungsrahmen für unterschiedliche Entwicklungen" schaffen. Dazu gehöre die Garantie einer hochwertigen Versorgung mit Strom, Wasser, schnellem Internet, Schulen, Polizei und Sicherheit. Außerdem müssten überall gleichwertige Bildungschancen hergestellt werden. Zugleich sollten die Kommunen mehr Geld und Freiheiten bekommen, um die Probleme vor Ort selbst zu lösen: „Denn es sind in der Regel die Ideen ,von unten‘, die zu einer Verbesserung des regionalen Wohlbefindens beitragen, und weniger die Konzepte ,von oben‘, die etwas herbeiführen wollen, was sie sie gar nicht definieren.“
Frederick Sixtus / Manuel Slupina / Sabine Sütterlin / Reiner Klingholz, Teilhabeatlas Deutschland. Ungleichwertige Lebensverhältnisse und wie die Menschen sie wahrnehmen. Hgg.: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und Wüstenrot Stiftung, Berlin 2019, 88 Seiten, Download
Weitere aktuelle Untersuchungen zum Thema:
Institut der Deutschen Wirtschaft (Hg.), Die Zukunft der Regionen in Deutschland – Zwischen Vielfalt und Gleichwertigkeit:
www.iwd.de/artikel/gefaehrdete-regionen-in-ost-wie-west-439061/
Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Ungleiches Deutschland – Sozioökonomischer Disparitätenbericht 2019:
www.fes.de/ungleiches-deutschland
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