Suche
Was haben Staaten wie Russland, China, Türkei und Ungarn gemeinsam? Sie diffamieren Kritiker als „Feinde des Volkes“, sie drangsalieren und verfolgen missliebige soziale Gruppierungen. Wenn es um Einschränkungen demokratischer Freiheiten geht, haben inzwischen auch viele westliche Länder dunkle Flecken auf der vermeintlich weißen Weste, auch Deutschland. Die Luft wird dünner, die Tendenz zur Begrenzung zivilgesellschaftlicher Handlungsräume nimmt weltweit zu, analysiert der „Atlas der Zivilgesellschaft 2019“ von Brot für die Welt und dem internationalen Netzwerk CIVICUS. Über diesen Prozess des „Shrinking Space“ sprach die Trendinfo-Redaktion mit Dr. Rupert Graf Strachwitz, Direktor des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft, Berlin: Was sind die Ursachen dieser Erosion unserer Grundrechte, ist die Demokratie bedroht?
Trendinfo: Fridays for Future und Menschen wie die Seenotretterin Carola Rackete treffen mit ihrem aufrüttelnden Protest den Nerv der Zeit, mobilisieren Heerscharen Gleichgesinnter und lassen manchen Polit-Profi alt aussehen. Erleben wir eine Hochkonjunktur zivilgesellschaftlichen Protests?
Rupert Graf Strachwitz: Wir erleben nicht nur Protest, wir erleben Handeln! Und das auch schon eine geraume Zeit. Ohne solche zivilgesellschaftlichen Aktivitäten hätte es keine Bewegungen für Frieden, für Gleichberechtigung, für die Umwelt gegeben. Und auch nicht den Mauerfall. Diese Bewegungen haben sich mittlerweile weltweit als Teil politischer Umbrüche etabliert. Bürger nehmen aktiv teil und begnügen sich nicht mehr damit, alle paar Jahre ihr Kreuzchen auf dem Wahlzettel zu machen.
Die Zivilgesellschaft – ein mitunter diffuser Begriff. Wer oder was ist damit gemeint?
International und auch für das Maecenata Institut ist die Zivilgesellschaft die Gesamtheit der freiwilligen, nichtstaatlichen, nicht auf Gewinn ausgerichteten Bewegungen, Organisationen und Institutionen, die im öffentlichen Raum agieren und subjektiv zum Gemeinwohl beitragen. Zivilgesellschaftliches Engagement gibt es überall, eine demokratische Gesellschaftsform ist nicht Voraussetzung. Man nehme nur die gegenwärtige Protestbewegung in Hongkong.
Die Einschränkungen der Zivilgesellschaft folgen offenbar einer weltweiten Entwicklung: Nur noch vier Prozent der Menschen genießen laut der aktuellen Studie von Brot für die Welt die uneingeschränkte Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, können demonstrieren oder eine zivilgesellschaftliche Organisation gründen. Warum steht die Demokratie so unter Druck?
Wir sehen uns mit drei großen Krisen konfrontiert: den Krisen des Kapitalismus, der Demokratie und der Nationalstaaten. Der Kapitalismus hat in seiner neoliberalen Ausrichtung zutiefst gespaltene Gesellschaften geschaffen. In Großbritannien kollabiert eine der ältesten Demokratien, in den USA ist die Demokratie einem Präsidenten Trump in die Hände gefallen. Und in Deutschland macht mir die Schwäche der traditionellen Parteien mehr Sorge als der Erfolg der AfD. Und was die Nationalstaaten betrifft: Wir können die Probleme der Moderne nicht mehr in ihren Grenzen lösen. Alle diese Herausforderungen kommen mit großer Geschwindigkeit auf uns zu.
Sind das nicht zu große Brocken für die Zivilgesellschaft? Der Ruf nach dem autoritären Staat wird lauter.
Nein. Die großen Krisen lassen sich nur gesamtgesellschaftlich bewältigen. Das ist eine Aufgabe, für die wir die Kreativität jedes einzelnen und die Ressourcen aller zivilgesellschaftlichen Gruppen brauchen. Anders als in der Vergangenheit dürfen wir nicht hoffen, dass Parteien und Parlamente die großen Lösungen bringen.
Ein Selbstverständnis, das diese Institutionen selbst aber leitet.
Ja, aber zu Unrecht! Zum Wesen einer demokratischen Gesellschaft gehört die Selbstermächtigung, dass Menschen sich selbst auf den Weg machen, sich ein Urteil bilden und mitreden. Das macht Regierungen, Parteien und Parlamenten Angst. Menschen wie Greta Thunberg und Carola Rackete sind Vorbilder für viele Menschen und akzeptierte Gesprächspartner geworden. Aber verbreiten soll sich das möglichst nicht. Angesichts von Globalisierung und multinationalen Konzernen haben die traditionellen Institutionen ohnehin schon viel Macht abgeben müssen. Und jetzt kommen auch noch die zivilgesellschaftlichen Akteure, gegenüber der sich Politik begründen und durchsetzen muss. Das passt den Mächtigen nicht.
Zivilgesellschaftliche Gruppierungen verstehen sich oft als kritisch, links, ökologisch, sehen sich als Gegenspieler von Staat und Parteien. Allerdings gibt es auch eine rechte bis völkische Protestkultur, die sich um den Schlachtruf „Wir sind das Volk“ schart. Wo verorten Sie solche Strömungen?
Auch sie sind Teil der Zivilgesellschaft, selbst wenn das mancher nicht wahrhaben will. Zivilgesellschaft ist nicht immer gut, schon gar nicht immer nach jedermanns Geschmack. Die Frage, ob eine Organisation zur Zivilgesellschaft gehört, muss man davon trennen, ob man sie für gut erachtet. Das fängt schon bei lokalen Kontrahenten an, die für und gegen eine Umgehungsstraße streiten. Der große Gewinn für die Gesellschaft besteht im Prozess des Abwägens von Fakten und Meinungen, den Jürgen Habermas als deliberative Demokratie bezeichnet hat – ein Prozess, der natürlich nicht immer vor Fehlschlüssen schützt. Wichtig sind Offenheit, Aufrichtigkeit, Verantwortlichkeit und Transparenz.
In jüngster Vergangenheit gab es vermehrt politischen Streit um die Gemeinnützigkeit und damit steuerliche Begünstigung einiger unbequemer Organisationen, etwa der Deutschen Umwelthilfe wegen ihrer Klagen für Fahrverbote, gegen das globalisierungskritische Netzwerk attac oder gegen Greenpeace. Eher Zufall oder eine Entwicklung mit System?
Zunächst: Es geht um Befreiung von der Steuerpflicht. Den Ausdruck Steuerbegünstigung finde ich schrecklich; der demokratische Staat hat niemanden zu begünstigen. Aber es stimmt: Repressive Maßnahmen zur Eindämmung der Zivilgesellschaft häufen sich. Dabei geht es um die Grundrechte auf freie Meinungsäußerung, Informations- und Versammlungsfreiheit, aber auch um konkrete Themen wie humanitäre Hilfe oder Verbraucherschutz.
Welche Daumenschrauben werden angezogen?
Geld ist ein wirksamer Hebel. Dabei fällt mir auch die Bundesratsinitiative des Freistaats Bayern zur Beschränkung von Spenden aus dem Ausland ein, ein System, das auch in Russland wirksam ist. Weitere Instrumente sind gesetzliche und administrative Maßnahmen, etwa die Beschränkungen politischer Tätigkeit und wirksame „weiche“ Maßnahmen, beispielsweise Herabwürdigung und Diffamierung. Das letztere findet statt, wenn humanitäre Hilfe als „Mitleidsindustrie“ bezeichnet wird.
Sie bezeichnen die Zivilgesellschaft als möglichen Rettungsanker unserer Demokratie. Können Sie das erklären?
Die Zivilgesellschaft kann nicht für sämtliche Probleme eine Lösung entwickeln oder alle Aufgaben wahrnehmen, die der Staat übernehmen sollte. Dazu bezahlen wir ihn ja schließlich auch mit unseren Steuern. Aber sie kann viel zu unserer Gesellschaft beitragen. Sie kann Fragen aufwerfen, Diskussionen anstoßen und Sachverstand liefern. Den Beitrag zivilgesellschaftlicher Akteure zum politischen Diskurs sehe ich nicht in Resultaten, sondern in den Prozessen, die uns alle einbeziehen sollten. Auch das Grundgesetz wurde ja nicht vom Parlamentarischen Rat erfunden. Es war Ergebnis vielfältiger Überlieferungen und Ideen, die von selbstermächtigten Gruppen im inneren und äußeren Exil entwickelt worden waren. Zu wünschen ist also der Diskurs mit allen, die daran teilnehmen wollen, auf gleicher Augenhöhe. Die repräsentative Demokratie ist dann dafür verantwortlich, die Entscheidungen zu treffen und ihren Vollzug durchzusetzen.
*Dr. phil. Rupert Graf Strachwitz ist Vorstand der Maecenata Stiftung, München, und Direktor des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft, Berlin
Weitere Informationen:
www.maecenata.eu
www.strachwitz.info
Christine Meissler, Atlas der Zivilgesellschaft 2019. Report zur weltweiten Lage. Hg.: Brot für die Welt, Berlin 2019, 80 Seiten,
Download
Gesellschaft
Bedroht der Staat die Demokratie? „Repressive Maßnahmen häufen sich“
Gesundheit
Nestwärme: Wie aus einer Idee in Trier ein Erfolgsprojekt für Deutschland wurde
Demografie
Vielfalt der Regionen schätzen, Schrumpfung akzeptieren
Gesellschaft
Die neue Lust aufs Land: Digitalarbeiter in der Wassermühle
Arbeitswelt
Home Office: Macht meist zufrieden, manchmal auch krank
Arbeitswelt
Neue Technologien am Arbeitsplatz: Digitalstress, lass nach!
Bildung
Bildungsmonitor 2019: Versetzung gefährdet!
Buchempfehlung
David Höner: Kochen ist Politik
Susanne Bauer
Senior Referentin Unternehmenskommunikation
Konrad-Adenauer-Ufer 85
50668 Köln
T 0221 97356-237
F 0221 97356-477
E-Mail