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Droemer Verlag, München 2017, 304 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-426-27706-5
Der Tastsinn, im Fachjargon Haptik genannt, ist ein faszinierendes Phänomen und das wichtigste Sinnessystem überhaupt, davon ist Martin Grunwald (51) zutiefst überzeugt. Der leidenschaftliche Haptik-Forscher von der Universität Leipzig gehört zu den wenigen Wissenschaftlern, die sich im deutschsprachigen Raum mit der Erforschung des Tastsinns beschäftigen. Seine wichtigste Erkenntnis nach 25 Jahren Forschungsarbeit: Der Mensch kann ohne Geschmackssinn leben, ohne Gehör, sogar ohne Augenlicht. Aber ohne Tastsinn nicht. Säugetiere, die nicht körperlich stimuliert werden, degenerieren und sterben.
Wie kann ein Sinnessystem so wichtig sein, dass unser Leben davon abhängt, es aber gleichzeitig wie ein Stiefkind behandelt wird? Dieser Frage geht Martin Grundwald in seinem Buch „Homo Hapticus“ auf den Grund.
Jeder macht es, ohne groß nachzudenken: Mit den Fingerspitzen den Anfang eines Klebebands tastend erkunden. Der Tastsinn – genauer gesagt, das Tastsinnessystem, wie Martin Grunwald es nennt – ist unser körpereigenes hochsensibles Messsystem. Es hilft nicht nur, kaum sichtbare Erhebungen feinfühlig zu differenzieren und zu ertasten. Über es erfahren wir auch, welche physikalischen Eigenschaften die äußere Umwelt hat: kalt oder heiß, weich oder hart. Eine der hervorragenden Leistungen des Tastsinns besteht für den Haptik-Professor vor allem darin, „dass wir uns jederzeit unserer körperlichen Existenz bewusst sein können. Wir denken uns nicht selbst, sondern wir fühlen uns“, sagt Martin Grunwald im Interview mit unserer Autorin.
Der gebürtige Leipziger mit dem leicht sächsischen Zungenschlag klingt so begeistert, als hätte er es gerade erst entdeckt: „Wir können uns in jeder Millisekunde unser eigenes Daseins körperlich empfinden. Unser Tastsinnessystem hält im Hintergrund den Geist unseres Körpers zusammen.“ Der Tastsinn macht uns nicht nur zu fühlenden Wesen, mit seiner Hilfe können wir überhaupt schlucken und atmen. Die Haut ist mit zwei Quadratmetern unser größtes Sinnesorgan und übersetzt Berührungen mit Hilfe des Gehirns in ein Gefühl. Sie signalisiert außerdem als äußere Hülle dem Organismus: Hier bist du zu Ende. Nur der Tastsinn kann uns unmittelbar versichern, dass wir da sind und die Welt außerhalb unseres Organismus ebenso. „Jeder Lebensbereich eines Menschen wird durch das stille Wirken des Tastsinnessystems geprägt. Es ist das biologisch größte und einflussreichste Sinnessystem, eine Meisterleistung der Natur. “
Für den Psychologen ist der Tastsinn eine Art Ur-Sprache, die unabhängig von anderen Kommunikationskanälen funktioniert. Bereits ab der achten Schwangerschaftswoche berühren sich Föten im Gesicht. Eine winzige Geste mit enormen Folgen. Laut Martin Grunwald entwickelt sich der Tastsinn lange vor den anderen Sinnen im Mutterleib. „Diese Reize sind ganz wichtige Elemente der vorgeburtlichen Reifungsprozesse.“ Über die Berührungen des Embryos mit Gebärmutterwand und Nabelschnur entstehen die Grundlagen für das Raumgefühl und die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Der Haptik-Forscher ist sich sicher, dass diese vorgeburtlichen Tasterfahrungen eine Art neuronale Basismatrix entstehen lassen.
Gut die Hälfte seines Buches „Homo Hapticus“ beschäftigt sich der Psychologe mit dem Fötus, dem Säugling, dem Kind und dem „Hineintasten in die Welt“, wie er es nennt. In den letzten 20 Jahren bereitet Martin Grunwald das weltweite Phänomen der zunehmenden Frühchen- Geburten Sorge. „Den frühgeborenen Lebewesen fehlt die vielfältige Körperstimulation im Mutterleib, das geht unwiederbringlich verloren und ist lebensbedrohlich.“ Der Haptiker nennt den Tastsinn „ein Lebensmittel", ohne das Babys jämmerlich eingehen. Berührung ist von der Geburt bis ins hohe Alter nicht nur ein Quell des Glücks, sondern auch heilsam. Frühgeborene, die regelmäßig massiert werden, entwickeln sich schneller als Frühchen ohne Streicheleinheiten. Demente Menschen, deren Kommunikation eingeschränkt ist, brauchen Berührung.
Der Wissenschaftler und sein Team beschäftigen sich aktuell mit der Frage, wie Frühchen körperlich im Brutkasten stimuliert werden können. Frühgeborene können noch nicht selbstständig durchatmen, sondern haben sogenannte Atemaussetzer, Apnoe-Phasen. „Während solcher Apnoe-Phasen kommt eine Schwester, berührt das Frühchen an den Füßen und nach diesem körperlichen Reiz beginnt die selbstständige Atmung wieder. Durch eine körperliche Stimulation setzt ein lebenswichtiger Mechanismus, nämlich die Atmung wieder ein.“ Zurzeit wird mit Hilfe des Haptik-Labors zusammen mit der dortigen Abteilung für Neonatalmedizin versucht, Frühgeborene mit Manschetten zu stimulieren, damit die Atemaussetzer gar nicht erst auftreten. „Da sind wir weltweit noch ziemlich am Anfang und hoffen auf entsprechende Geldgeber.“
Zum Haptiker wurde Martin Grunwald noch zu DDR-Zeiten als Doktorand der Psychologie in Jena. Dort machte er vor gut 20 Jahren eine Entdeckung, die ihn nie mehr losließ: „In meiner Promotionsarbeit wollte ich die Vorstellungskraft des Menschen untersuchen und habe dafür sogenannte Tiefenreliefs entworfen. Die Probanden mussten blind diese Reliefs ertasten. Ich bin ganz naiv davon ausgegangen, dass alle Menschen tasten können.“ Eine Teilnehmerin versagte völlig. Sie war magersüchtig. Seitdem erforscht der Wissenschaftler Anorexia nervosa und komme seit 25 Jahren „aus dem Staunen nicht mehr heraus“.
Der Forscher, der sich selbst „Zappelphilipp“ nennt, fand heraus: Die verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers lässt sich bei Magersüchtigen auf eine Fehlfunktion jenes Teils des Gehirns zurückführen, der die sensorischen Reize verarbeitet. Mit dem Tastsinn entwickelt sich offenbar das Bild des Menschen von sich selbst. Der Haptiker entwickelte einen Neoprenanzug, der an der Charité in Berlin inzwischen zusammen mit anderen Methoden genutzt wird, um magersüchtige Jugendliche zu behandeln. Es gab noch einen anderen „unbewussten Kontakt zur Funktion und zur Kraft des Sinnessystem“, erzählt der Familienvater beiläufig. Martin Grunwald war bereits als Student im Wendejahr mit 22 Jahren Vater geworden. „Das war für mich erstaunlich. Diese Grunderfahrung, dass ein Kind ganz elementar auf elterliche Körperberührungen reagiert, hat mich tief beeindruckt.“ Grunwald nähte damals selbst eine Tragetasche, trug seine Tochter am Körper und die Kinder durften immer bei den Eltern schlafen.
Seit 1996 existiert das Haptik-Labor. Es ist an der Uni Leipzig am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung angesiedelt und ziemlich einzigartig in Europa. Da es kaum Forschungsgelder in diesem Bereich gibt, kreiert und baut Martin Grunwald mit seinem Team die notwendigen Apparaturen für die Erforschung des Tastsinns selbst. Vieles im Leipziger Forschungslabor ist somit Marke Eigenbau. Neben Grundlagenforschung beschäftigt sich der Wissenschaftler mit zwei weiteren großen Forschungsbereichen: den psychischen und neurologischen Störungen der Tastsinneswahrnehmungen. Die dritte Achse ist die Industrieforschung. Die Liste der Unternehmen, für die Grunwald und sein Team arbeiten, ist lang: Sie versuchen für die Automobilbranche oder Hersteller von Möbeln, Kameras, Kosmetika oder Handys herauszufinden, wie Dinge, Objekte, Geräte verändert werden müssen, damit sie sich für den Tastsinn optimal anfühlen. Die Anfrage ist steigend und rettet die Finanzierung des Labors.
In seinen neuesten Studien beschäftigt sich Martin Grunwald auch mit einem Alltagsphänomen: Selbstberührungen. Sich an die Stirn fassen, übers Kinn streichen. An die 800 Mal am Tag macht man diese Selbstexploration, wie der Wissenschaftler sie nennt. „Nach unseren Daten helfen Selbstberührungen im Gesicht, das Arbeitsgedächtnis für die aktuelle Situation aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig werden durch Selbstberührungen überschießende Emotionen reguliert. Immer wenn uns die Emotionen quer kommen oder ein Gedanke durch eine Störung entgleitet, setzen wir zu Selbstberührungen an.“ Kleine Berührungen an der Wange sind somit dafür zuständig, dass Hirnbereiche aktiviert werden. Sie helfen uns, handlungsfähig zu bleiben. Diese Erkenntnis ist wirklich faszinierend: Immer wenn störende Reize von außen auftreten und der Inhalt des Arbeitsgedächtnisses verloren zu gehen droht, wird eine Selbstberührung ausgelöst.
Die rund 300 Seiten „Homo Hapticus“ sind ein nicht immer einfach zu lesender Rundumschlag zum Tastsinn, seiner Bedeutung und seiner Funktion. Es wird sehr detailliert beschrieben, mit welch einer geradezu extremen Sensitivität die Haut des Menschen ausgestattet ist. Martin Grunwald macht die Kraft der Körperinteraktionssignale bewusst und weist immer wieder darauf hin, wie wichtig im Alltag nur wenige Sekunden Körperkontakt sind. „Zeit für eine kurze Umarmung, das ist immer drin.“ Eine Umarmung, ein körperliches Signal transportiert für den Haptiker „auf die schnellste und ehrlichste denkbare Weise, was man meint.“ Recht hat er.
Weitere Informationen:
www1.wdr.de/fernsehen/quarks/beruehrung-forschung-tastsinn-100.html
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Martin Grunwald: Homo Hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können
Susanne Bauer
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