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Wie es gelingen kann, die Selbstheilungskräfte des Gehirns rechtzeitig zu aktivieren
Arkana Verlag 2017, 135 Seiten, 18,- Euro, ISBN 978-3-442-34209-9
Gerald Hüther ist einer der bekanntesten Hirnforscher Deutschlands. Für den „Bildungsguru“, wie er von Kritikern nicht immer nur liebevoll genannt wird, ist das Gehirn seit über 20 Jahren in erster Linie ein dynamisches Organ. Jetzt hat sich der renommierte Biologe mit Demenz beschäftigt. Der Professor aus Göttingen will mit dem Irrglauben aufräumen, dass Abbau und Verschleiß im Gehirn zwangsläufig in die Demenz führen. Für Gerald Hüther sind vor allem bei der Altersdemenz nicht die zerstörerischen Ablagerungen entscheidend. Schuld an der Erkrankung ist seiner Meinung nach vor allem unsere Lebensweise. Demenz ist für den Neurobiologen in erster Linie eine soziale Krankheit. „Wer die Fähigkeit zur Selbstheilung nutzt, bleibt bis ins hohe Alter geistig fit“, schreibt Gerald Hüther in seinem aktuellen Buch und macht sich für einen neuen Ansatz in der Demenzforschung stark, einen Weg „Raus aus der Demenzfalle“.
Gerald Hüther versteht sich als Brückenbauer zwischen Forschung und Lebenspraxis. Der bekannte Hirnforscher hat mittlerweile mehr als 20 populärwissenschaftliche Bücher geschrieben. In fast allen setzt sich der Professor im Ruhestand mit unserem Selbstverständnis und unserem Zusammenleben auseinander. Der Bestsellerautor beschäftigt sich immer wieder mit dem Leben als „erkenntnisgewinnenden Prozess“ und suchte nach den Ursachen für gesellschaftliche Missstände. Und einer der Missstände ist für den Professor aus Göttingen aktuell die Demenz, die „Unvernunft“ (anoia) im Alter, wie es der griechische Philosoph Aristoteles ausdrückte. Zweitausend Jahre später hießen die altersbedingten Krankheitssymptome „seniler Schwachsinn“. „Ablagerungen und Degenerationen im Hirn können gar nicht für die Demenz verantwortlich sein. Es könnte sein, dass in der Art und Weise, wie wir zusammenleben, etwas falsch ist“, sagt der Hirnforscher im Gespräch mit unserer Autorin.
Der charismatische Vortragredner weist darauf hin, dass er weder „Experte auf dem Gebiet der Demenzforschung ist noch über einschlägige Erfahrungen bei der Behandlung dementieller Erkrankungen verfügt. „Aber ich befasse mich seit vielen Jahren mit der Frage, was Menschen brauchen, um ihre angeborene Lernfähigkeit nicht zu verlieren und das in ihrem Gehirn angelegte Potential auch noch im Alter zur Entfaltung zu bringen“, schreibt Gerald Hüther gleich im ersten Kapitel. „Ich möchte mit meinem Buch versuchen, nicht länger irgendwelche Ablagerungen im Gehirn verantwortlich zu machen, sondern sehr ungünstige, im Gehirn sehr vieler Menschen abgelagerte Vorstellungen.“
Die bisherige Demenzforschung sieht vor allem medizinische Ursachen für Demenz. Gerald Hüther plädiert für einen Paradigmenwechsel bei der Behandlung der Krankheit. Da lohnt sich zunächst ein Blick zurück auf die Anfänge der Hirnforschung. Nach seiner Flucht aus der DDR forschte Gerald Hüther Ende der 70er Jahre zunächst am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin zu Hirnentwicklungsstörungen. Er arbeitete viele Jahre in der neurobiologischen Grundlagenforschung, Untergebiet Neurochemie. Damals reifte die Erkenntnis noch zögerlich, dass sich das Gehirn bis ins hohe Alter umbauen kann. „Das kann sich heute keiner mehr vorstellen, wie die Hirnforscher damals unterwegs waren“, erinnert sich Gerald Hüther.
„Es gab ein Dogma aus den 1920er Jahren und das hieß: Wenn das Hirn einmal fertig verdrahtet ist, ändert sich nichts mehr. Und das haben wir alle brav geglaubt.“ Anfang der 2000er Jahre erschienen die ersten Berichte, dass auch ältere Menschen durchaus in der Lage sind, nach einem Schlaganfall Ausfälle auszugleichen. „Das ganze Netzwerk, das vorher auf der linken Seite war, wurde auf der rechten Seite wieder neu aufgebaut. Das hat mich tief beeindruckt“, so der studierte Biologe. „Fast das halbe Hirn ist weg und das restliche Hirn kann dann diese Funktionen übernehmen. Da war mir schon klar, dass da ein Riesenpotential sitzt.“ Möglich wurde das unter anderem durch bildgebende Verfahren (CT, MRT), die die Veränderungen sichtbar machten.
2001 erschien die mittlerweile berühmt gewordene Nonnenstudie von David Snowdon. 20 Jahre lang hatte der amerikanische Epidemiologe knapp 700 Nonnen zwischen 75 und 106 Jahren regelmäßig mit wissenschaftlichen Tests auf Demenz überprüft. Nachdem die Nonnen verstorben waren, wurde ihr Gehirn untersucht. Dabei stellte man fest, dass etwa ein Drittel ein genauso stark abgebautes Hirn hatte, wie die durchschnittliche Bevölkerung in Europa. Zum Teil hatte das Hirn genau die Anzeichen von Plaque und Nekrosen, die Alois Alzheimer als typisch für Patienten mit Altersschwachsinn bezeichnete. Trotzdem war keine dieser Nonnen – bis auf wenige Ausnahmen – dement geworden. Vielmehr lösten sie zeitlebens intellektuell anspruchsvolle Aufgaben. „Da wurde etwas beobachtet, was nicht sein durfte“, stellt Gerald Hüther heute fest.
Die sensationellen Befunde wurden folglich jahrelang von Experten ignoriert. Hirnforscher Hüther verknüpfte jetzt die aktuellen medizinischen Erkenntnisse, nämlich dass das Gehirn fähig ist, sich bis ins hohe Alter umzubauen, mit jenen Erkenntnissen, die er seit Jahrzehnten gebetsmühlenartig wiederholt: Das Gehirn braucht Herausforderungen. Und Menschen brauchen ein Umfeld, in dem sie sich wohlfühlen, um bis ins hohe Alter geistig fit zu bleiben. Das kann ein Kloster sein, aber auch eine Familie oder eine sinnstiftende Gemeinschaft. Dann stößt das Hirn ganz von alleine seine regenerativen Prozesse an.
Die ganze Forschung war in den letzten 50 Jahren so darauf fokussiert, herauszufinden, wie man die Ablagerungen und Abbauprozesse verhindern kann. „Keiner hat sich so richtig um den Wiederaufbau des Hirns gekümmert“, beobachtete Gerald Hüther. Seiner Meinung nach wurden diese Nonnen deshalb nicht dement – obwohl auch ihr Hirn mehr oder weniger wegschrumpelte, wie der Forscher es ausdrückt –, weil sie unter Bedingungen lebten, in der die Selbstheilungskräfte und die regenerativen Kräfte im Hirn bis ins hohe Alter aktiv blieben. Wissenschaftlich heißt das, sie haben ein Kohärenzgefühl. Übersetzt man es volkstümlich, ist gemeint: „Die Nonnen haben in ihrer Klosterwelt das Gefühl, das alles passt. Das was dort passiert, ist alles verstehbar, es ist von ihnen gestaltbar und ist erst recht in ihren Augen sinnhaft.“
Dem Hirn der jeweiligen Nonne war es offenbar gelungen, den Abbau durch „neuroplastische Kompensation“, wie es im Fachjargon heißt, auszugleichen: Gerald Hüther ist fest davon überzeugt: Die im Hirn nachweisbaren Abbauprozesse können nicht die Ursache für die Herausbildung von Demenz sein. Obwohl das Hirn der Nonnen genauso stark geschädigt oder degeneriert war, wie bei völlig dementen Patienten, hat es einfach wieder neue Verbindungen hergestellt, schreibt der Hirnforscher. Diese Selbstheilungskräfte sind für Gerald Hüther „nichts Mystisches“: „Das ist nichts weiter als die prinzipiell bis ins hohe Alter vorhandene Fähigkeit, dass Nervenzellen in bestimmten Regionen sogar neu gebildet werden oder neue Kontakte mit anderen Nervenzellen aufgebaut werden können“. Für den Autor geht das nur, wenn es einem wirklich gut geht. Wenn man weiß, man gehört dazu und andere freuen sich, dass man noch da ist.“
In Deutschland leben gegenwärtig fast 1,6 Millionen Demenzkranke; zwei Drittel von ihnen sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen. Sofern kein Durchbruch in Prävention und Therapie gelingt, wird laut der Gesellschaft für Alzheimer die Krankenzahl bis zum Jahr 2050 auf rund drei Millionen ansteigen. Für Gerald Hüther ist es gerade wegen dieser bedrohlichen Prognosen spürbar wichtig aufzuzeigen: Demenz ist kein individuelles Schicksal, keiner hat irgendetwas falsch gemacht. Demenz ist eine soziale Krankheit.
Viele alte Menschen werden seiner Meinung nach dement, weil ihnen die Freude am Leben und am gemeinsamen Gestalten verloren gegangen ist. Die rasante Zunahme von Demenz vor allem in der Kriegsgeneration und der der Kriegskinder hängt für Gerald Hüther eng damit zusammen. Diese Generationen haben ihre furchtbaren Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg nicht verarbeiten können. Die Folge: „Was man im Hirn verliert, wird nicht wieder aufgebaut.“ Das sind für den Forscher „keine Einzelschicksale“. Sie sind „Teil einer bestimmten Schicht innerhalb der Gesellschaft, die ganz besonders unter den damaligen Bedingungen zu leiden hatte und sich heute nutzlos fühlt“, sagt der dreifache Vater und Großvater.
Gerald Hüther warnt allerdings davor, diese Erkenntnisse zu benutzen, um sich einen einzelnen Fall wie zum Beispiel die dementen Eltern anzuschauen. „Es gibt so etwas wie Schicksal, weil man in eine bestimmte Zeit hineingeboren ist. Wenn wir es verstanden haben, können wir unseren Kindern helfen, ihr Leben so zu gestalten, dass ihnen solche Dinge erspart bleiben.“ Mit „so gestalten“ meint Gerald Hüther, „sich dafür einsetzen, dass wir keinen Krieg mehr kriegen, denn das ist das Schlimmste was einer Gesellschaft passieren kann“. Den eigenen Kindern und den nachwachsenden Generation zu helfen, „nicht irgendwelchen Karrieren hinterherzurennen“. „Das wären alles schöne Aufgaben, damit sie nicht in diese Demenzfalle hineintappen.“
Gerald Hüther beobachtet, dass die jetzige Generation der über 60-Jährigen bereits anders alt wird. Sie arbeiten ehrenamtlich, wandern, probieren Neues. Als Tendenz lässt sich sogar schon erkennen, dass die Häufigkeit von Demenzen bei den heute 60-Jährigen zu sinken beginnt. Der Mediziner plädiert seit vielen Jahren dafür, dass das menschliche Gehirn sein Potential am besten in Netzwerken entfalten kann. Der Hirnforscher weiß, auch aus eigener Erfahrung, dass vor allem Bewegung, gesunde Ernährung, tanzen, singen und musizieren, also ein erfülltes Zusammenleben mit anderen, das Erkrankungsrisiko für Demenz erheblich verringern kann.
Gerald Hüther hebt am Ende seines schmalen Büchleins hervor, dass er bisher noch keine Angehörigen mit einer Demenzerkrankung gepflegt und umsorgt hat. Selbst seine neunzig Jahre alten Eltern erfreuen sich immer noch am Leben. Der Hirnforscher nennt es „einfach ganz frech menschliche Wärme“, die fehlen könnte, wenn Menschen der Kriegsgeneration oder die der Kriegskinder dement werden. Was ist aber, wenn diese Menschen gerne mit anderen zusammen waren, sich gebraucht fühlten, dazugehörten und sich die Selbstheilungskräfte des Gehirns trotzdem im hohen Alter verabschiedet haben? Schuld sei vor allem unsere Lebensweise, die lasse die Selbstheilungskräfte des Gehirns verkümmern – diese Erklärung ist möglicherweise zu kurz gegriffen. Gerald Hüthers zentrale Botschaft ist richtig und nicht neu: Wir sind soziale Wesen. Liebevolle Begegnungen und Anerkennung sind die Schlüssel, damit das Leben (wieder) einen Sinn hat und die Selbstheilungskräfte des Gehirns rechtzeitig aktiviert werden. Ob das wirklich vor der Demenzfalle schützt, werden die kommenden Jahre zeigen.
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