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Bei einem Notfalleinsatz in Berlin-Moabit pöbelte ein Mann die Sanitäter an und trat den Außenspiegel des Rettungswagens ab. Auslöser der Tat: Um einem bewusstlosen Kleinkind Erste Hilfe zu leisten, hatten die Helfer den Fahrer kurzzeitig zugeparkt. Schlagzeilen machte auch dieser Fall: Bei Löscharbeiten in einem Mehrparteienhaus in Ratingen wurde der Einsatzleiter von zwei Männern übelst beschimpft und geschubst.
Nachrichten der vergangenen Monate, die für einen bizarren Trend stehen. Rettungssanitäter, Notärzte und Feuerwehrleute kommen, um zu helfen. Doch so manches Mal müssen sie sich selbst schützen – vor Pöbeleien und Attacken. Wie gefährlich leben die Helfer und wie können sie sich schützen? Das untersuchten Kriminologen der Ruhr-Universität Bochum in einer Erhebung über Gewalt gegen Einsatzkräfte in Nordrhein-Westfalen.
64 Prozent der Befragten waren innerhalb der zurückliegenden zwölf Monate Opfer von Gewalt gewesen, ergab die Studie. Im Einzelnen: 60 Prozent der Rettungskräfte waren beschimpft (verbale Gewalt) und 49 Prozent durch den ausgestreckten Mittelfinger oder angedeutete Faustschläge beleidigt worden (nonverbale Gewalt), 13 Prozent hatten sogar körperliche Gewalt erfahren.
Weiblichen Einsatzkräften erging es kaum besser als ihren männlichen Kollegen – sie waren lediglich seltener Zielscheibe nonverbaler Übergriffe. Unterschiede in der Gewaltbetroffenheit stellt die Studie in zwei Aspekten heraus: Im Rettungseinsatz besteht eine weitaus höhere Wahrscheinlichkeit, Opfer von Gewalt zu werden (94 %) als im Brandeinsatz (42 %). Auch der Einsatzort spielt eine Rolle: In Metropolstädten (über 500.000 Einwohner) kommt es häufiger zu Übergriffen als in kleineren Städten.
Klingt paradox, doch Retter machen sich nicht nur Freunde. Ob sie zu Verletzten oder Betrunkenen gerufen werden, oft erleben sie Menschen, die in Ausnahmesituationen mit Frust und Kontrollverlust reagieren. Dabei ergeben sich aus der Befragung statistische Auffälligkeiten. Die Täter sind meist männlich und unter 30 Jahre alt. Körperliche Gewalt geht in drei Viertel der Fälle von Patienten aus (Angehörige und Freunde: 12 %, Unbeteiligte: 9 %), dabei sind oft Alkohol und Drogen im Spiel.
Die ermittelten Zahlen zur Häufigkeit von Gewalt sind alarmierend, müssen jedoch vor dem Hintergrund des geringen Rücklaufs der Befragung interpretiert werden. Von 4.500 angesprochenen Einsatzkräften beteiligten sich nur 812 Personen (18 %) an der Studie. „Wir hätten uns eine höhere Beteiligung gewünscht, vor allem auch, weil das Thema in den Medien so intensiv diskutiert wird“, äußert Projektleiter Professor Thomas Feltes in einer Pressemeldung der Universität. „Möglicherweise betrifft das Problem doch weniger Rettungskräfte als gedacht.“ Zu bedenken ist aber, dass 50 Prozent der Betroffenen ihre Gewalterfahrungen in der Behörde erst gar nicht offiziell gemeldet haben, etwa, weil sie meinen, doch nichts an ihrer Situation ändern zu können oder weil sie solche Übergriffe als zu ihrem Job gehörig betrachten.
Ein kleiner Lichtblick der vorliegenden Untersuchung ist, dass sie im Vergleich mit einer früheren Studie aus dem Jahr 2011 keinen Anstieg von Gewalt gegen Rettungskräfte feststellte. Dennoch verlangt das Ausmaß respektloser und brutaler Attacken nach Maßnahmen. Politik und Gesellschaft sind alarmiert. So wurde 2017 das Strafrecht verschärft und sieht bis zu fünf Jahre Haft bei Übergriffen auf Einsatzkräfte der Rettungsdienste und auf die Polizei vor. Fraglich ist allerdings, ob die Androhung höherer Strafen auch den Schutz der Einsatzkräfte erhöht. Gewaltforscher wie Wilhelm Heitmeyer aus Bielefeld bezweifeln das nachdrücklich.
Die Studie legt jedenfalls den Fokus auf einen anderen Ansatz: „Gewaltprävention und damit einhergehend das Erlernen der Bewältigung bestimmter Konfliktsituationen ist für das Einsatzgeschehen unerlässlich“, meinen die Forscher. Und hier gibt es noch viel zu tun. Nur 52 Prozent der Teilnehmer fühlen sich durch die Ausbildung gut auf mögliche Konfliktsituationen vorbereitet, lediglich 65 Prozent sehen das Thema Gewaltprävention in der Ausbildung angemessen behandelt. Entsprechend klar ist der Wunsch nach regelmäßiger Fortbildung in Deeskalationstraining (67 %), in Selbstverteidigung (71 %) sowie in kulturellen und migrationsspezifischen Verhaltensweisen (41 %). Wichtig ist für Kriminologe Thomas Feltes auch ein funktionierendes Meldesystem der Polizeibehörden für Gewalttaten. Nur auf der Basis einer aussagekräftigen Datenbasis könne man sinnvolle Präventionsmaßnahmen anbieten und deren Erfolg evaluieren.
Thomas Feltes / Marvin Weigert, Gewalt gegen Einsatzkräfte der Feuerwehren und Rettungsdienste in Nordrhein-Westfalen – Abschlussbericht.
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