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Der jüngste Tarifabschluss in der Metall- und Elektroindustrie dürfte Geschichte schreiben. Das Modell der befristeten 28-Stunden-Woche signalisiert den Einstieg der hierzulande wichtigsten Industriebranche in die individualisierte Arbeitswelt der Moderne. Beschäftigte können sich auf begrenzte Zeit verstärkt um ihre Kinder oder pflegebedürftigen Angehörigen kümmern, Arbeitgeber dürfen im Gegenzug mehr 40-Stunden-Verträge abschließen. Flexible Arbeitszeiten sind schon lange ein großes Thema. Allerdings werden die besonderen Strukturen und Bedürfnisse kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) dabei oft nicht berücksichtigt. Hier hakt eine Literaturstudie des Fraunhofer Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung nach. Sie zeigt Chancen und Hindernisse lebensphasenorientierter Arbeitszeitmodelle für KMU auf.
Ein echtes Defizit, dass ausgerechnet kleine und mittlere Unternehmen (max. 249 Beschäftigte) in der Theorie und Praxis flexibler Arbeitszeitregelungen ein Schattendasein fristen. Schließlich sind 61 Prozent der Beschäftigten in Deutschland in genau solchen Unternehmen tätig. Und längst hat sich herumgesprochen, wie wichtig Angebote zur Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben im Wettbewerb um Fachkräfte sind. Die Stärke dieser Firmen – hohe Spezialisierung und Kundenorientierung, qualifizierte Mitarbeiterschaft, vielfältige Organisationsformen – erschwert ihnen offenbar die Etablierung firmenweit verbindlicher Modelle variabler Arbeitszeiten. Dazu passt der Befund vorliegender Studie: Wenn schon flexible Zeiten, dann eher maßgeschneiderte Arrangements wie Vertrauensarbeit und individuelle Absprachen als allgemeingültige Formate.
Zahlreiche Hürden erschweren die Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle in KMU. Zum Beispiel eine Vielzahl rechtlicher Ausnahmeregelungen vom Arbeitszeitgesetz (ArbZG) speziell für diese Betriebsgröße. Oft kennen die Entscheider in den Unternehmen die Funktionsweisen einzelner Modelle nicht und sind hinsichtlich des Aufwands verunsichert. Großbetriebe mit ihrer größeren Expertise zu diesen Themen sind hier klar im Vorteil. Hinzu kommt eine Unternehmenskultur vieler KMU, die neuen Ideen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht eben förderlich ist, konstatieren die Studienautorinnen.
KMU verfügen jedoch über Potenziale, die in besonderem Maß für flexible und selbstbestimmte Arbeitszeitgestaltungen sprechen, in der Praxis aber zu wenig genutzt und in der Literatur zu wenig thematisiert werden, meint die Studie. Flache Hierarchien und direkter Kontakt unter Vorgesetzten und Kollegen begünstigen die bedarfsgerechte Anpassung von Arbeitszeiten und -bedingungen. „Neben der direkten Kommunikation und der ausgeprägten Eigenverantwortung könnte ebenfalls die oftmals bestehende Nähe des Wohnorts zum Arbeitsplatz der Einführung flexibler Arbeitszeiten zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben zugutekommen.“
In rechtlicher Hinsicht bilden die komplexen Bedingungen des Flexi-II-Gesetzes und die Vorschriften der Insolvenzsicherung für Langzeitkonten hohe Hürden für die Unternehmenspraxis. Das muss aber so nicht bleiben: Ausfallbürgschaften zur Insolvenzsicherung und die Übertragung der Verwaltung von Wertguthaben auf die Deutsche Rentenversicherung Bund schaffen Planungssicherheit, stellt die Studie fest.
Von politischer Seite sollten Gesetzesvorhaben – z. B. Teilzeitrückkehrrecht, Wahlarbeitszeitgesetz, Familienarbeitszeit – kontinuierlich darauf überprüft werden, inwiefern sie den Realitäten innerhalb der Unternehmen entsprechen. Als weitere Maßnahme empfiehlt sich, das Wissen über Gesetze sowie über Kosten und Nutzen innovativer Zeitformate auf einer Internetplattform bedarfsorientiert zugänglich zu machen, um den Unternehmen aufwändige Recherchen abzunehmen.
„Mehrere Good-Practice-Ansätze verschiedenster Unternehmensgrößen und Branchen beweisen, dass eine erfolgreiche Einführung von Flexibilisierungsinstrumenten möglich ist“, sind die Autorinnen überzeugt. Das Spektrum ist vielfältig. Die Vorbild-Firmen reichen vom Malerbetrieb über das Software-Unternehmen bis zum Industriebetrieb. Die Arbeitszeitmodelle betreffen sowohl einvernehmliches Jobsharing als auch das digital gestützte Planungstool für zeit- und ortsflexibles Arbeiten. Als Beispiel für organisatorische Kreativität sei nur die Firma Westaflex aus Gütersloh genannt: Den knapp 250 Beschäftigten in Produktion und Verwaltung stehen rund 80 Angebote der individuellen Zeitgestaltung zur Auswahl.
Obwohl KMU ein erhebliches Potenzial zur Implementierung flexibler Arbeitszeitmodelle haben, bleiben sie darin hinter Großunternehmen zurück. Als erstes sollten bestehende Forschungslücken geschlossen werden, fordern die Autorinnen: „Unter anderem könnte so eine umfassende Datenerhebung, die eine Art Kartografie der Arbeitszeitbedürfnisse verschiedener Beschäftigtengruppen vornimmt, eine differenzierte Analyse etwa nach Branche, Region, Betriebsgröße und Unternehmenskultur ermöglichen.“ Darauf aufbauend ließen sich unternehmens- und branchenspezifische Fallanalysen erstellen.
Klar ist, dass die Arbeitswelt von morgen den Mut zum Experiment verlangt. Das starre Festhalten an der 35-Stunden-Woche hat sich in vielen Branchen überlebt. Gerade die auch international so erfolgreichen KMU bieten beste Voraussetzungen, die mit Digitalisierung, Robotern und künstlicher Intelligenz angestoßenen Umbrüche durch innovative Regelungen der Arbeitszeit zu meistern.
Roda Müller-Wieland / Katharina Hochfeld, (Arbeits)Zeit zu gestalten!
Potenziale flexibler und selbstbestimmter Arbeitszeitmodelle in KMU.
Eine Literaturstudie. Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Politik und Gesellschaft,
Berlin 2017, 64 Seiten
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