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Wie aktuell zu erleben, stellt die Corona-Pandemie die Sozial- und Gesundheitswirtschaft vor noch nie dagewesene Herausforderungen. Zugleich leistet die Branche den entscheidenden Beitrag zur Krisenbewältigung hierzulande. Die Bank für Sozialwirtschaft hat zusammen mit den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege, dem Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, dem Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) und der Universität zu Köln ein detailliertes Bild der wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Unternehmen erhoben. Diese bundesweit größte Längsschnitterhebung zeigt eine Branche in beträchtlichem Umbruch, macht Belastungen und Finanzierungslücken sichtbar. Trendinfo sprach mit Studienleiterin Britta Klemm, Leiterin des Kompetenzzentrums Sozialwirtschaft & Research der BFS Service GmbH, über zentrale Umfrageergebnisse.
Britta Klemm: Die Studie verdeutlicht in ihrer vierten Auflage noch einmal die außerordentlichen wirtschaftlichen Belastungen der Leistungserbringer und des Personals auf allen Ebenen. Gleichzeitig wird aber auch die enorme Flexibilität der Einrichtungen und Dienste abgebildet. Sie sind nun schon über einen längeren Zeitraum gefordert, Mehrarbeit und einen zusätzlichen Bürokratie- und Dokumentationsaufwand zu bewältigen. Prozessabläufe mussten angepasst werden, zum Beispiel die Dienstplangestaltung geändert oder ein Krisenstab eingerichtet werden. Zu dieser Neu- und Umstrukturierung der Arbeitsorganisation kam der Umgang mit coronabedingten Personalengpässen von mehr als 15 Prozent.
Die positive Nachricht vorab: In keinem Geschäftsfeld wird eine akute Insolvenzgefahr gesehen. Insbesondere die Tagespflegen, die stationären Pflegeeinrichtungen sowie die ambulanten Pflegedienste erwarten jedoch eine Refinanzierungslücke, die mehrheitlich auf fünf bis 20 Prozent geschätzt wird, wenn die Schutzpakete auslaufen. Etwa zehn Prozent der Befragten aus den Tagespflegen erwarten sogar Refinanzierungslücken im Umfang von bis zu 30 Prozent. Auch bei den Krankenhäusern sowie den Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen werden Refinanzierungslücken zwischen schätzungsweise fünf und 30 Prozent erwartet. Insbesondere die gemeinnützigen Träger können nicht auf finanzielle Rücklagen zurückgreifen, um Engpasssituationen auszugleichen. Große Unsicherheit besteht zudem hinsichtlich möglicher Rückzahlungsforderungen im Zusammenhang mit den Ausgleichszahlungen und der Inanspruchnahme verschiedener Förderprogramme. Um dem Liquiditätsbedarf in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft Rechnung zu tragen, hat die Bank für Sozialwirtschaft ein Sonderkreditprogramm bereitgestellt.
Alle Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens sind noch weit von einem Normalbetrieb entfernt und müssen mit Auslastungsveränderungen oder -defiziten umgehen, jedoch in unterschiedlichem Umfang. Vergleichsweise geringe Auslastungsdefizite verzeichnen beispielsweise die ambulanten Wohnformen.
Wesentliche Gründe dafür bestehen in gesetzlichen Auflagen, zum Beispiel in behördlichen Belegungsstopps und der Verpflichtung zum Vorhalten kleinerer Gruppen in der Tagespflege. Ebenso wichtig sind aber auch die pandemiebedingt reduzierte Nachfrage sowie fehlendes Personal etwa durch krankheitsbedingte Arbeitsausfälle oder Kinderbetreuung wegen der pandemischen Situation.
Die Studie hebt deutlich hervor, wie wichtig die Rettungsschirme und Schutzpakete des Bundes und der Länder sind. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die Träger der sozialen Infrastruktur in der Krise sicher weiterarbeiten konnten.
Ohne den wesentlichen und grundsätzlichen Nutzen der Rettungsschirme in Frage zu stellen, besteht Optimierungsbedarf in der Ausgestaltung, beispielsweise bei der Refinanzierung von personellen Mehraufwendungen und Sachmitteln wie Schutzkleidung und -ausstattung. Als problematisch werden auch Refinanzierungslücken aufgrund der Deckelung der Erstattungsbeträge betrachtet. Handlungsbedarf liegt zum Beispiel bei der Kompensation von Mindereinnahmen im Bereich der Investitionskosten der stationären und teilstationären Pflege vor.
Im Zuge des aktuell wieder an Dynamik gewinnenden Infektionsgeschehens sind vordergründig spürbare Mehrbelastungen im Gesundheits- und Sozialwesen zu verzeichnen. Eine erneute Verschärfung der Minderauslastungen ist nicht auszuschließen. Insofern werden für einzelne Geschäftsfelder staatliche Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen weiterhin eine wichtige Rolle für das Abfangen negativer wirtschaftlicher Konsequenzen spielen.
Über die Bewältigung der kurzfristigen Herausforderungen hinaus ist eine Debatte zur nachhaltigen Finanzierung des gesamten Sozial- und Gesundheitswesens erforderlich. Diese muss zwingend den Aspekt des steigenden Personalbedarfs beleuchten, welcher weitere Investitionsbedarfe nach sich ziehen wird.
Die wahre Zerreißprobe für die Branche besteht in der extrem angespannten Personalsituation. Der Fachkraftmangel ist bereits heute der limitierende Faktor für zukünftiges dringend benötigtes Wachstum im Sozial- und Gesundheitswesen.
Die Pandemie führt breiten Bevölkerungsschichten die Bedeutung von leistungsfähigen Versorgungsstrukturen vor Augen. Das gilt es im Bewusstsein zu halten und neben einer entsprechenden finanziellen Ausstattung eine Strategie zur Steigerung der Attraktivität der sozialen Berufe zu erarbeiten. Wie das eigene Unternehmen in der Sozialwirtschaft im Hinblick auf die Arbeitgeberattraktivität im Wettbewerbsvergleich aufgestellt ist und welche Maßnahmen durchgeführt werden können, um die Personalgewinnung und -bindung langfristig, auch nach der Krise, zu erhöhen, ist eine der Beratungsleistungen des Kompetenzzentrums Sozialwirtschaft der BFS Service GmbH.
Die historisch einzigartige Belastung der Sozial- und Gesundheitswirtschaft durch die Pandemie hat uns vor Augen geführt, dass unsere Gesellschaft auf bestimmte Berufsgruppen gerade in Krisensituationen stärker angewiesen ist als auf andere. Dies könnte nachhaltig zu einer allgemeinen Aufwertung des Pflegeberufes und anderer sozialer Berufsfelder beitragen.
Positiv ist zudem, dass das Interesse von Investoren an weitestgehend konjunkturunabhängigen Sozial- und Gesundheitsimmobilien ungebrochen hoch ist. Das Sozialimmobilien-Segment hat sein ausgeprägtes Sicherheitsprofil gegenüber anderen Investment-Zielmärkten, wie zum Beispiel Hotels, Handel oder Gastronomie eindrucksvoll bewiesen.
Die Pandemie zeigt jedoch wie durch ein Brennglas strukturelle Mängel in der Branche auf, und diese werden zu Veränderungsprozessen führen. Die Sozialwirtschaft hat aber, gerade in dieser Krise, ihre Flexibilität unter Beweis gestellt, so dass ein optimistischer Blick in die Zukunft absolut gerechtfertigt scheint.
Zur vierten Befragung und den vorangegangenen Studien im Detail:
Bank für Sozialwirtschaft (Hg.), Befragung zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Sozial- und Gesundheitswesen, 4. Befragung: Köln, November 2021, 59 Seiten
www.sozialbank.de/covid-19/umfrage.html
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