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Verlag: DVA Sachbuch 2018, 240 Seiten, 20,- Euro, ISBN 978-3-421-04814-1
Jens Bergmann (54) schrieb zuletzt eine Ideen- und Kulturgeschichte über den „Tanz um das Ich“, gemeint sind Risiken und Nebenwirkungen der Psychologie. Jetzt hat sich der stellvertretende Chefredakteur des Wirtschaftsmagazins Brand eins mit der Unvernunft beschäftigt. „Noch nie war es so leicht, sich schlau zu machen, Fakten zu prüfen und Argumente gegeneinander abzuwägen“, schreibt der Journalist. „Doch das Gegenteil ist der Fall: Allerorten triumphiert die Unvernunft.“ Was bedeutet es für jeden einzelnen, wenn irrationales Denken so erfolgreich ist? Wieso ist weltweit so etwas Vernünftiges wie die „Vernunft“ aus der Mode gekommen? In seinem Buch setzt sich Jens Bergmann mit der sozialen, der kirchlichen und der politischen Seite der Unvernunft auseinander.
Alle Voraussetzungen da, um die Kernidee der Aufklärung wahr werden zu lassen, nämlich sich seines gesunden Menschenverstandes zu bedienen. Gemeint ist die Bereitschaft, Kritik zuzulassen, den eigenen Standpunkt zu überdenken oder Unterschiede in der Wahrnehmung der Welt zu erkennen. Stattdessen greift irrationales Denken um sich, „alternative Fakten“ werden salonfähig. Zu beobachten ist das strikte Gegeneinander von Gefühl und Ratio, als ob die beiden erbitterte Gegner wären. Für Jens Bergmann gibt es aber „keine Wahrheit des Gefühls. Gefühle können nur dann vernünftig genutzt werden, wenn der Verstand mit ins Spiel kommt.“ Umgekehrt braucht die abwägend kühle Ratio immer auch unsere Herzensbildung, wie der Journalist es nennt.
„Vernunft ist eine schöne Sache, aber Nachdenken ist eben auch anstrengend“, sagt Jens Bergmann im Gespräch mit unserer Autorin. Die Ratio gilt als kühl, empathielos, buchhalterisch, technokratisch. „Seinen Impulsen und Vorurteilen zu folgen, nur auf den Bauch zu hören, wenn man von einer Sache gar keine Ahnung hat, das geht schneller, ist effektiver.“ Für den Absolventen der Henri-Nannen-Schule ist es naheliegend, dass eine bestimmte Politik mittlerweile so geschickt mit Gefühlen, Feindbildern und Täuschungen operiert, dass es echte Fakten heutzutage richtig schwer haben. „Wir erleben Staatsmänner, die sich aufführen wie fünfjährige Kinder. Wir erleben Politiker in Großbritannien, die sagen, die Leute hätten die Nase voll von Experten, also letztlich von Fakten und es ist die Rede vom postfaktischen Zeitalter.“ Jens Bergmann glaubt, dass man dem Phänomen Unvernunft nur auf die Spur kommt, wenn man versteht, was den Reiz des irrationalen Denkens ausmacht und welche Bedürfnisse dahinterstecken.
Ein wesentlicher Aspekt: Menschen, die irrationales Denken propagieren, also die Demagogen und Autokraten von heute, legitimieren letztlich auch den Hass. Und Hass ist ein starker Affekt, den wir normalerweise unterdrücken. „Wenn uns aber jemand sagt, es ist okay, die Sau rauszulassen, es ist okay auf Fremde herabzuschauen, setzt das ungeheure Energien frei. Das darf man nicht unterschätzen“, warnt der stellvertretende Chefredakteur des Wirtschaftsmagazins Brand Eins, „das sind negative Energien, die unsere Zivilisation normalerweise einhegt“. „Wenn man sie befreit, wenn dieser Vulkan losbricht, hat das für diejenigen, die sich auf der richtigen Seite wähnen, ganz sicher etwas sehr Erotisches.“
Spannend, kritisch und unterhaltsam beschreibt Jens Bergmann, dass Unvernunft durchaus sexy sein kann. Vernunft kommt dagegen eher langweilig und unsexy, wenn auch sehr nützlich daher. Vernünftig sein klingt zudem ganz altmodisch nach Spielverderber und Spießertum. Orientierung durch Desorientierung, nennt der Journalist ein Kapitel. Dieses sehr erfolgreiche Credo gilt nicht nur für Demagogen, sondern auch für selbsternannte Heiler, sogenannte Gurus und Scharlatane aller Art. Das Irrationale ist scheinbar sehr faszinierend, aber wer ihm erliegt, ist trotzdem nicht notwendigerweise dumm. Im Gegenteil. Unvernunft kommt der Sehnsucht nach Kontrolle über die eigenen Lebensumstände entgegen. Für den Autor liegt das am sozialen Druck, denn letztendlich jeder will geliebt und akzeptiert werden. Und man kann offenkundig Falsches als richtig bezeichnen, ohne dafür selbst Verantwortung zu übernehmen. Die übernimmt die Gemeinschaft, schreibt der Journalist in seinem Buch.
Niemand behauptet von sich selbst: Ich bin unvernünftig. Höchstens im Nachhinein gesteht man kleinlaut ein, zwei Fehler ein. Genau dieser Widerspruch macht die Diskussion über Vernunft so schwierig: Jeder hält sich selbst für vernünftig und nur die Gegenseite für unvernünftig. Für Jens Bergmann steckt darin aber auch eine tiefere Wahrheit: Vernunft ist für ihn nicht in Stein gemeißelt. „Viele Amerikaner halten es für vernünftig, wenn sie in ihren Häusern schwer bewaffnet herumlaufen, in Deutschland finden es die Autofahrer und der ADAC super, mit Tempo 200 über die Autobahn zu brettern“, schreibt der Autor. „Der Begriff ist umstritten, zumal er sich über die Jahrzehnte weiter und weiter entwickelt hat. Das macht die Diskussion darüber, was eigentlich vernünftig ist, so schwierig.“
Jens Bergmann schreibt zu Recht, dass es schnell persönlich wird, wenn man über den Unterschied zwischen Vernunft und Unvernunft nachdenkt. Der Mensch ist für den Autor zwar „das einzige vernunftbegabte Wesen, deshalb aber nicht immer vernünftig, wie jeder aus eigener Erfahrung weiß“. Wer schon mal versucht hat, ganz skeptisch alles und jeden zu hinterfragen, wirklich nichts ungeprüft zu lassen, der weiß: Das ist völlig unmöglich. „Wir verbringen 80 Prozent unserer Zeit auf Autopilot, folgen unseren Gewohnheiten, hören auf unseren Bauch und das ist vollkommen okay so“, erläutert der Journalist. Menschen, die dagegen dafür plädieren, den Verstand abzuschalten und nur noch auf den Bauch zu hören, führen uns seiner Meinung nach in die Irre. „In Situationen, in denen es darauf ankommt, sollte man den Verstand einschalten. Auf diese Weise ist der Fortschritt der gesamten Menschheit zustande gekommen.“
Meist kann man die subjektiven Motive des anderen nicht nachvollziehen. Deswegen neigen wir gerne dazu, dem Anderen Unvernunft zu unterstellen. Verrückt sind im Zweifel immer die anderen. Die breit angelegte Flucht vor der Vernunft könnte die weltweite Finanzkrise vor zehn Jahren mit ausgelöst haben, vermutet Jens Bergmann. Die im Finanzsystem steckende Irrationalität hat sich nach der Finanzkrise, auf Politik und Gesellschaft übertragen. Für viele sind die komplexen Geld- und Finanzströme bis heute undurchschaubar geblieben. Die milliardenschwere Rettung der Banken stößt nach wie vor auf Unverständnis angesichts aktueller Probleme wie Kinderarmut, Klimaerwärmung, Pflegenotstand und explodierenden Mieten.
Was den Autor überrascht: Die „Sonnenfinsternis der Vernunft“, wie Jens Bergmann es nennt, hat im Informationszeitalter auch die Wissenschaft erreicht. Wissenschaft wird für die Sphäre des Rationalen per se gehalten. „Aber es wird unglaublich viel wissenschaftlicher Unsinn produziert.“ Das liegt für den Journalisten zum einen daran, dass Nachwuchswissenschaftler möglichst viel publizieren müssen – keine wirklichen Erkenntnisse, sondern Masse statt Klasse. „Es gibt mittlerweile tausende von unseriösen Fachzeitschriften, die jedweden Unsinn bringen, das fand ich persönlich das Erstaunlichste“, so Jens Bergmann. „Das ist gefährlich, wenn man sich auf Wissenschaft nicht mehr verlassen kann, führt das die Menschen und Bürger in die Irre.“
Mit Gewinn liest man, wenn sich Jens Bergmann mit esoterischen Heilsverspechen und den zugrunde liegenden Bedürfnissen beschäftigt. Oder mit der Institution Kirche, die ihre Anziehungskraft verloren hat. Anstatt sich um ihr Kerngeschäft zu kümmern und neue Gläubige zu gewinnen, weite sie ihre Geschäftsfelder wie ein Unternehmen aus, hetze gegen Frauen, die abtreiben oder gegen Homosexuelle. Für den Autor wohnt dieser Form des irrationalen Glaubens „eine gefährliche fundamentalistische Versuchung inne“. Stets konstruktiv und optimistisch, meist gespickt mit Zitaten von Dichtern, bezieht sich der Journalist auf Vordenker wie Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud oder Hermann Hesse. Sie alle haben sich mit dem Widerspruch zwischen Gefühl und Verstand beschäftigt. Jens Bergmann macht deutlich, weshalb es so wichtig ist, Sinn und Zweck des Irrationalen zu verstehen. Und weshalb wir Phantasten, Spinner und Exzentriker brauchen, die uns auf neue Ideen bringen.
Das Irrationale hat für Jens Bergmann durchaus einen positiven Kern. „Wir Menschen können uns eine Welt vorstellen, die es noch nicht gibt. Wir können uns Utopien vorstellen, neue Welten, eine Verbesserung der Verhältnisse, das ist der positive Kern des irrationalen Denkens. Das ist auch der positive Kern von Religion, die eine Hoffnung auf ein besseres Leben verspricht, oder der positive Kern von Esoterik. Selbst in Verschwörungstheorien ist ein positiver Kern enthalten, weil sie geloben, undurchsichtige Verhältnisse durchsichtiger zu machen, den Mächtigen auf die Finger zu gucken. Der Autor ist sich ganz sicher: Wenn man die Menschen an diesem Punkt abholt und anspricht, kann man auch etwas gegen das Irrationale tun.
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