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Im Fernsehen läuft russisches Programm, Patienten wählen auf der Speisekarte aus ihrem Heimatland aus. Wenn es gewünscht ist, wird das Krankenzimmer auch nach Mekka ausgerichtet: Als Zielland für Medizintouristen aus aller Welt nimmt Deutschland eine Spitzenstellung ein, rechnet Gesundheitsökonom Jens Juszczak von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg vor. 250.000 Patienten lassen sich hierzulande für 1,2 Milliarden Euro pro Jahr behandeln, davon 101.000 stationär. Im Interview mit der BFS-Trendinfo verrät Juszczak, worauf es für Kliniken und Praxen im Umgang mit Medizintouristen ankommt.
Jens Juszczak: Deutschland hat eines der besten Gesundheitssysteme weltweit und bietet eine medizinische Versorgung auf höchstem Niveau, ein engmaschiges Netz medizinischer Dienstleister, aktuellstes medizinisches Know-how und modernste Medizintechnik zu vergleichsweise geringen Kosten. Die medizinischen Leistungen hierzulande sind allen gleichermaßen zugänglich und werden anhand transparenter Vergütungskataloge abgerechnet. In vielen Ländern der Welt hingegen sind die Versorgungskapazitäten unzureichend, ist der Zugang zu qualitativ hochwertigen Leistungen beschränkt oder an die monetäre Leistungsfähigkeit der Patienten gekoppelt. Das alles begründet die Beliebtheit deutscher Kliniken und Arztpraxen im Ausland.
Von den 101.000 stationären Patienten aus dem Ausland im Jahr 2016 kamen 44 Prozent aus unseren Nachbarländern, allen voran aus Polen, den Niederlanden und Frankreich. Etwa 12 Prozent der Patienten stammen aus arabischen Ländern, insbesondere den Golfstaaten Vereinigte Arabische Emirate, Saudi-Arabien und Kuwait. Knapp 10 Prozent reisen aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, vor allem aus Russland und der Ukraine, an.
Grundsätzlich fragen Patienten aus dem Ausland dieselben medizinischen Leistungen nach wie deutsche Patienten. Je nach Herkunftsland oder -region gibt es jedoch unterschiedliche Präferenzen. So besteht im arabischen Raum großes Interesse an Diabetologie, Neurologie, Pädiatrie und Onkologie. Patienten aus dem russisch-sprachigen Raum wünschen vielfach onkologische, kardiologische oder orthopädische Leistungen, und Chinesen fragen oft CheckUps sowie die Behandlung von Lungenerkrankungen nach. Ausgangspunkt für die Nachfrage sind in der Regel Defizite in den heimischen Gesundheitssystemen wie ein eingeschränktes Leistungsspektrum, lange Wartezeiten oder hohe Kosten.
Medizinische Leistungen bilden zwar die wichtigste Komponente. Darüber hinaus aber ist eine Reihe von Serviceleistungen gefragt, die helfen, den Behandlungsaufenthalt zu vereinfachen. Dazu zählen die bestmögliche Organisation und Betreuung, um die Dauer des Aufenthaltes zu minimieren und den Patienten das Wohlbefinden in einer fremden Umgebung zu erleichtern.
Von großer Bedeutung sind interkulturelles Management und Sprachkenntnisse. Die Patienten haben unterschiedliche Erwartungen an die Verpflegung, die Ausstattung der Patientenzimmer oder die Möglichkeiten zur Ausübung ihrer Religion. Sie wollen gegebenenfalls eine Begleitperson in ihrer Nähe wissen und mit den Angehörigen im Heimatland kommunizieren.
Eindeutig ja. Bei Patienten aus nicht-westlich geprägten Kulturräumen ist der Aufwand für die Kliniken meist höher als bei Medizintouristen aus unseren europäischen Nachbarländern. Aufgrund der wachsenden Bedeutung der Serviceleistungen haben der TÜV Rheinland und die Hochschule Bonn-Rhein-Sieg ein TÜV-Servicezertifikat entwickelt, das Patienten und Kostenträgern eine hohe Dienstleistungsqualität signalisiert.
Wichtigste Kommunikations- und Vertriebswege sind Internetportale und Social Media, persönliche Kontakte und Multiplikatoren oder das Auslandmarketing über Messen und Veranstaltungen. Das gilt für die meisten Ländermärkte, unterscheidet sich aber im Detail.
Eine russischsprachige Webseite muss mit anderen Inhalten und Bildern gestaltet werden als eine arabischsprachige. Auch das Suchmaschinenmarketing oder die Einbindung von Inhalten in Social-Media-Netzwerke unterscheiden sich nach Herkunftsland: Während arabische Patienten oft Facebook und Instagram nutzen, bevorzugen Russen Yandex und Odnoklassniki, und die Chinesen lieben ihr WeChat. Eine Eins-zu-Eins-Übertragung deutscher Inhalte in eine andere Sprache reicht daher meist nicht aus.
Je nach Prozessschritt treten unterschiedliche Herausforderungen auf. Bei der strategischen Markterschließung müssen die Ambitionen mit der vorhandenen Leistungsfähigkeit und dem eingesetzten Kapital harmonisieren. Kliniken zum Beispiel sollten sehr gründlich analysieren, ob und wie sie den Bedarf in den anvisierten Zielmärkten decken können, ob überhaupt eine Nachfrage vorhanden ist und ob die finanziellen Mittel zur Marktbearbeitung ausreichen. Oft wird auch der zeitliche Vorlauf bis zum Erfolg falsch eingeschätzt und schon nach ein bis zwei Jahren die Einwerbung ausländischer Patienten aufgrund zu geringer Patientenzahlen abgebrochen.
Meist haben die Kliniken mit organisatorischen Hürden zu kämpfen. Dazu zählen die möglichst lückenlose Abstimmung der Behandlungstermine, ein permanentes Kostencontrolling oder die Unterbringung von Begleitpersonen. Nach Abschluss der Behandlung sind die schnelle Übersetzung der medizinischen Dokumentation und eine zeitnahe Leistungsabrechnung die primären Herausforderungen.
„Patientenvermittler“ ist weder ein Berufsbild noch eine Berufsbezeichnung. Nach deutschem Recht ist die Vermittlung von Patienten an einen medizinischen Leistungsanbieter gegen eine Vergütung sittenwidrig und damit untersagt. Den klassischen Vermittler ausländischer Patienten dürfte es folglich nicht geben, wenn man sich an die Gesetzgebung hält.
Der Schwerpunkt dieser Dienstleister liegt heute in der Betreuung, daher wird meist die Bezeichnung „Patientenbetreuer“ gewählt. Von Vorteil sind die teilweise guten Kontakte dieser Dienstleister in den Zielmärkten, die Übernahme von Transport- und muttersprachlichen Betreuungsleistungen der Patienten sowie der Organisation und Begleitung touristischer Dienstleistungen. Problematisch sind dagegen die fehlenden Kenntnisse von Medizin und Krankenhausabläufen, ein manchmal gespaltenes Verhältnis zu gesetzlichen Regelungen und eine gewisse Kreativität bei der Leistungsabrechnung.
Aus medizinischer Sicht ist Deutschland gut aufgestellt, obwohl Personalmangel und Sparzwänge zukünftig negative Auswirkungen haben dürften. Schlecht steht es allerdings um geeignete rechtliche Rahmenbedingungen. Die Politik hat es bisher versäumt, Regelungen zu schaffen, die einerseits Transparenz und Rechtssicherheit bei der Behandlung ausländischer Patienten schaffen – gerade im Bereich der Leistungsabrechnung – andererseits eine Subvention ausländischer Leistungsbezieher verhindern.
Gerade die in Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG, §8 Abs.1, S. 1) untersagte herkunftsbezogene Differenzierung bei der Berechnung der Entgelte führt unweigerlich zur einer Subvention, da ausländische Patienten oft sehr viel mehr Aufwand bedeuten. Kliniken dürfen diesen aber nicht in Rechnung stellen. Ohne die Möglichkeit, entstehende Kosten – beispielsweise für die Einwerbung der Patienten, für finanzielle Abwicklung oder Betreuung – auch verursachergerecht abzurechnen, sind die Anreize für medizinische Leistungsanbieter im Geschäftsfeld Medizintourismus relativ gering, wenn man sich an die gesetzlichen Vorgaben halten möchte. Oft wird auch übersehen, dass sich die Patienten aus dem Ausland nicht an den Kosten für die Infrastruktur beteiligen. Hier werden die Inlandspatienten über Steuern und Krankenkassenbeiträge zur Kasse gebeten, was Auslandspatienten ebenfalls subventioniert.
Jens Juszczak ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg mit Schwerpunkt Gesundheitsmarketing. Seit 15 Jahren leitet er den Forschungsbereich Medizintourismus und berät Kliniken, Ministerien, Organisationen, Kommunen und Dienstleistungsunternehmen bei der Entwicklung sowie Umsetzung von Medizintourismusprojekten. Juszczak ist Mitinitiator des Arbeitskreises „Internationale Patienten“ deutscher Universitäts- und Großkliniken.
Buchtipps:
Jens Juszczak / Isabella Kern: Ethik im Medizintourismus, in: Andreas Gadatsch, Hartmut Ihne, Jürgen Monhemius, Dirk Schreiber (Hrsg.): Nachhaltiges Wirtschaften im digitalen Zeitalter, Innovation - Steuerung - Compliance, Wiesbaden 2018, 451 Seiten, S. 17- 35, ISBN 978-3-658-20173-9
Frank-Michael Kirsch / Jens Juszczak (Hrsg.): Medizintourismus. Erfahrungen mit einer weltweiten Wachstumsbranche, Paderborn 2017, 363 Seiten
ISBN 978-3-942409-63-6
Mehr Infos im Internet:
www.auslandspatienten.de
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