Suche
So viel Sinnlichkeit war noch nie auf dem jüngsten Deutschen Seniorentag. Sexualität gehöre auch ins Altenheim, so fordert es die „Charta der Sinnlichkeit“, die dort erstmals vorgestellt und heiß diskutiert wurde.* Diese Checkliste für ein lustfreundliches Altenheim wendet sich gegen die verbreitete Ansicht, Sexualität alter oder behinderter Menschen sei kein Thema, schon gar nicht in der Pflege. Tatsächlich kommt langsam Bewegung in die Alten- und Pflegeszene. Dafür steht auch ein aktuelles Forschungsprojekt zur Sexualität im Altenheim an der Frankfurt University of Applied Sciences zusammen mit Pro Familia Hessen.
Wie äußern sich sexuelle Bedürfnisse im Altenheim, welche Einstellungen haben Pflegekräfte zur Erotik alter Menschen, was muss sich in der Ausbildung ändern? Diese Themen erforscht die Studie, für die bundesweit mehr als 500 Pflegekräfte und Heimbewohner, letztere im Alter zwischen 71 und 104 Jahren befragt wurden.
Dem Wunsch nach Zärtlichkeit und Nähe, nach Erotik und Sexualität stehen die befragten Pflegekräfte mehrheitlich positiv gegenüber, stellt die Studie heraus. Sie sind überzeugt, dass Sexualität ein menschliches Grundbedürfnis ist und für Wohlbefinden bis ins hohe Alter sorgt. Die Befragten nehmen geschlechtsspezifisch unterschiedliche Manifestationen von Sexualität auch im hohen Alter wahr: Männer zeigen ihre Wünsche demnach deutlicher als Frauen, während sexuelle Bedürfnisse hochaltriger Frauen unterschätzt werden. Zahlreiche Befragte lassen aber auch eine gewisse Abwehr erkennen: Bei ihnen löst es „eher unangenehme Gefühle“ aus, Sexualität alter Menschen im ihrem Pflegealltag wahrzunehmen.
Eine große Mehrheit der Befragten (68 %) spricht von einer regelmäßigen Begegnung mit Sexualität in Wort und Tat im Pflegealltag. Die Wahrnehmung reicht von sexualisierten Bemerkungen (47 %) über Selbststimulation (27 %) und dem Konsum erotischer Magazine (14 %) bis zur Kontaktaufnahme mit Sexualbegleitern und Prostituierten (4 %). Dennoch besprechen lediglich 35 Prozent der Befragten sexuelle Vorkommnisse und Aspekte mit den Kollegen. Das wirft kein gutes Licht auf die Fähigkeit, das eigene Verhalten in puncto Sexualität im Pflegealltag zu reflektieren und Handlungsstrategien zu entwerfen, meint Studienautorin Hildegard Keul-Bogner.
Bei der Einschätzung, ob und inwieweit die betagten und oftmals in ihrer Bewegung und Motorik eingeschränkten Bewohner Unterstützung zur Auslebung ihrer Sexualität brauchen, herrscht bei den Fachkräften große Unsicherheit. Der Anteil der Ja- und Nein-Stimmen hält sich in etwa die Waage (25 vs. 29 %), fast die Hälfte (46 %) kann die Frage nicht sicher beantworten. Wo jedoch schon einmal Hilfe geleistet wurde, kommt einiges zusammen: etwa die Ermöglichung von Privatsphäre, das Eingehen auf sexuelle Vorlieben und die Kontaktanbahnung zu speziell trainierten Sexualbegleitern und zu Prostituierten. Ebenso zählen das Angebot von Gesprächen, medizinischer Hilfe und die Beschaffung erotischer Magazine, Filme oder einschlägiger Spielzeuge dazu.
In welcher Form auch immer den Pflegekräften das Thema begegnet: Fühlen sie sich überhaupt zuständig? Sollen sie sich zusätzlich zu ihrem ohnehin schon stressigen Arbeitsalltag nun auch noch den intimen Sehnsüchten der Heimbewohner zuwenden? Die Antworten gehen erheblich auseinander. Mehr als die Hälfte der Befragten (58%) sieht das nicht als ihre Aufgabe an. Nicht, dass sie diese Bedürfnisse als unwichtig abtun (s. o.). Sie sehen das Thema aber besser bei Angehörigen, Betreuern und Therapeuten aufgehoben.
38 Prozent der Befragten haben bereits einen Übergriff unter Bewohnern erlebt, etwa mit aufdringlichen Berührungen, unaufgeforderten Küssen oder Eindringen in private Räumlichkeiten. Nur wenige Fachkräfte (6 %) lassen einen eindeutig identifizierten Übergriff auf sich beruhen, die übrigen suchen Unterstützung bei Kollegen und Vorgesetzten und schützen die Betroffenen. Was die Studie auch zutage fördert: Elf Prozent der Befragten haben im Verlauf ihrer Berufstätigkeit einen Übergriff von Fachkräften an Bewohnern erlebt oder davon gehört.
Die Studie verdeutlicht, dass die Sehnsucht alter und behinderter Menschen nach Nähe und körperlicher Zuwendung oft unerfüllt bleibt. Wenn sie sich als erotische Wesen artikulieren, trifft das bei Pflegekräften oft auf eine diffuse Mischung aus Verständnis, Unsicherheit und bisweilen sogar Hilflosigkeit.
Der Pflegepraxis fehle noch weitgehend das professionelle Selbstverständnis im offenen Umgang mit dem Thema; außerdem mangele es an regelhaften Besprechungen und Entscheidungen im Team zu aktuellen Begebenheiten, stellt die Studie fest.
Viele Pflegekräfte wünschen sich Unterstützung, sind sich der Bedeutung des Themas bewusst und streben sachbezogene Aus- und Weiterbildung an – immerhin 88 Prozent der Befragten haben noch nie eine Weiterbildung zu Aspekten der Sexualität in der Altenpflege absolviert. Hinzu komme der Wunsch nach Reflexion und Supervision, denn die eigene Kompetenz werde hier als begrenzt erlebt.
Trotz dieser insgesamt unbefriedigenden Situation gibt es aber auch einen Lichtblick: Liebe kennt kein Alter und wird in allen ihren Facetten zunehmend enttabuisiert.
* Die „Charta der Sinnlichkeit“ wurde vom Netzwerk „Sexualität und Altenpflege“ erarbeitet und soll in Kürze in ihrer Endfassung veröffentlicht werden. Das Netzwerk ist eine Kooperation u. a. von Paritätischem Wohlfahrtsverband und Pro Familia Niedersachsen und will die Berücksichtigung von Intimität und Sexualität als Qualitätsmerkmal in der Altenpflege etablieren.
Hildegard Keul-Bogner, Männer sind anders, Frauen auch? Eine geschlechtersensible Studie zur Sexualität in Einrichtungen der Altenpflege, Pilotprojekt, Frankfurt University of Applied Sciences, 2018, 51 Seiten (Studie liegt nicht zum Download vor).
Zum Fortbildungsangebot von Pro Familia Hessen für Leitungs- und Fachkräfte in der Altenpflege: „Sexualität –(k)ein Thema in der Altenpflege?“
Gesundheitswirtschaft
Medizintourismus: Zu Risiken und Erfolgsfaktoren fragen Sie …
Digitalisierung
Lokales Miteinander: Nachbarschaftsplattformen, Facebook & Co
Pflege
Pflegeszene im Umbruch: Lust gehört ins Altenheim!
Bildung
Schule und Unterricht: Was denken Jugendliche, was Erwachsene?
Pflege
Vereinbarkeit: Unternehmen lassen es an Unterstützung fehlen
Familie
Kinder, geht nach draußen spielen!
Energieeffizienz
Riesige Einsparreserven in Pflegeheimen: Wärme für elf Einfamilienhäuser
Buchempfehlung
Jens Bergmann: Triumph der Unvernunft
Susanne Bauer
Senior Referentin Unternehmenskommunikation
Konrad-Adenauer-Ufer 85
50668 Köln
T 0221 97356-237
F 0221 97356-477
E-Mail