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Beim aktuellen Plan der EU-Kommission zur Regulierung der großen Online-Plattformen dürfte Facebook-Chef Mark Zuckerberg wohl kaum den „Gefällt mir“-Button drücken. Als er kürzlich in einer gemeinsamem Videokonferenz seine Sicht zu diesem Thema darlegte, konterte Industriekommissar Thierry Breton mit klarer Ansage: „Wir schätzen Ihr Geschäft. Aber nicht wir sollten uns an Sie anpassen, sondern vielmehr umgekehrt.“ Tech-Bosse aus dem Silikon-Valley blicken derzeit sorgenvoll nach Brüssel, weil ihre milliardenschweren Geschäfte im Binnenmarkt beschnitten werden könnten. Das europäische Interesse gilt aber nicht nur einer Zähmung der Plattformen, sondern auch einem eigenständigen Modell des digitalen Humanismus, begründet eine Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Wir kaufen bei Amazon, kommunizieren über Facebook, Instagram und TikTok und googeln unser Weltwissen. Damit geht die radikale Neuordnung ganzer Branchen einher. Während wir noch dabei sind, die Konsequenzen für den Alltag zu bewerten, setzt mit künstlicher Intelligenz, dem Internet der Dinge und autonomen Fahren schon der nächste Innovationsschub ein.
Treiber dieser Entwicklung ist die Plattformökonomie: ein gigantischer digitaler Marktplatz mit selbstverstärkendem Netzwerkeffekt, geringen Transaktionskosten und der Monopolisierung von Marktmacht. Bei der davon ausgehenden Herausforderung für das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell setzt die aktuelle Studie an. Im Mittelpunkt aller denkbaren Strategien stehe, Kontrolle über das eigene digitale Leben zu haben und die digitale Gesellschaft aktiv mitzugestalten, betont Studienautor Thomas Gegenhuber, Juniorprofessor für digitale Transformation an der Leuphana-Universität Lüneburg.
Im Kern geht es um die Frage, wie Europa seine politische, wirtschaftliche und kulturelle Souveränität gegenüber den mächtigen Tech-Unternehmen der USA und Chinas behaupten will. Es geht um einen dritten Weg in die digitale Zukunft, der über den Kontinent hinaus auch global anschlussfähig ist: „Zwischen dem von Shareholder-Value getriebenen digitalen Kapitalismus der Vereinigten Staaten und der chinesischen Variante, die technologische Exzellenz mit staatlicher Kontrolle vereint, gibt es Raum für eine eigenständige europäische Vision: einen digitalen Humanismus“, ist Gegenhuber überzeugt. „Um diese Vision zu realisieren, ist die Regulierung der Plattformen nur ein erster Schritt.“
Reagieren ist Silber, Agieren ist Gold – unter dieser Devise sollte die Vision für das digitale Europa vorangetrieben werden. Die Konzepte etwa zu Datensicherheit und Datensouveränität böten wertvolle Ansatzpunkte für eine eigenständige Positionierung Deutschlands und Europas, müssten aber durch weitere Maßnahmen ergänzt werden, fordert Gegenhuber. So ist die anfangs kritisierte DSGVO Blaupause für ähnliche Regelungen weltweit und für die großen Tech-Konzerne daher ein Reizthema.
Gefragt ist der digitale unternehmerische Staat, der selbst aktiv ist, fördert und seine Nachfragekapazität in die Waagschale wirft. Hier denkt der Autor an Alternativen zu Plattformen wie Facebook und Youtube: etwa ein Portal öffentlich-rechtlicher Mediatheken, das mit User-Content und Wikipedia zur reichweitenstarken Non-Profit-Plattform verknüpft werden könnte. Auf lokaler Ebene existieren bereits gute Beispiele für serviceorientierte Plattformen, die auf andere europäische Ballungsräume übertragbar sind – etwa die Berliner Verkehrsbetriebe mit der App „Jelbi“, die das umfassende Mobilitätsangebot in der Stadt vom Bus über Carsharing bis zum Roller abbildet. Barcelona experimentiert mit einer Open-Source-Plattform, bei der Tech-Communities, Universitäten, Kooperativen, Firmen und weitere Städte zusammenarbeiten.
Digitale Plattform-Genossenschaften könnten ein neues Unternehmertum mit sozialer Wertschöpfung begründen. So will sich der Fahrradlieferdienst CoopCycle als europaweite Alternative zu Deliveroo und Foodora positionieren. Vor allem bei Dienstleistungen sollten europaweite Netzwerke mit lokaler und regionaler Basis möglich sein, empfiehlt der Autor. Dazu bedürfte es der Senkung rechtlicher Hürden, zum Beispiel der Förderung von Plattformgenossenschaften als Sozialunternehmen.
Hoher Stellenwert im Konzept des digitalen Humanismus kommt Schulen und Universitäten zu. Die etablierten Bildungsträger sollten den Austausch mit den experimentierfreudigen Szenen rund um Maker Movement und Coding Communities zur Normalität erheben. Dabei werden auch Aspekte der Gleichstellung in der männerdominierten Tech-Branche berührt, etwa bei „Code Curious – Rails Girls Berlin“, wo Programmierkenntnisse gezielt an Frauen vermittelt werden.
In puncto Recruiting und strategische Allianzen bedarf es eines massiven Ausbaus von Forschung und Entwicklung in Europa, einschließlich des Talentscouting bei US-amerikanischen Top-Universitäten, fordert der Autor. Solche Maßnahmen sollten durch die Übernahme von Studiengebühren und die Schaffung strategischer Ballungszentren (z. B. Amsterdam, Berlin, Warschau) mit inspirierenden beruflichen Perspektiven flankiert werden.
Vorausblickende staatliche Investitions- und Förderpolitik ist unabdingbare Voraussetzung für das digitale Europa. Ein Zukunftsfonds könnte das finanzielle Herzstück sein. Die Erschließung neuer Einnahmequellen (Digital-, Finanztransaktions- oder Vermögenssteuer) sowie ein Anreizsystem für Risikokapital helfen, die Finanzierung auf stabile Füße zu stellen.
Entscheidend für das Modell des digitalen europäischen Humanismus ist, bereits bestehende Bausteine zu einem soliden Fundament zu verknüpfen, fordert Gegenhuber. Ein Unterfangen, das kein Selbstläufer ist: Ohne den entschlossenen politische Willen und eine breite Bewegung, welche die Menschen begeistert und zum Mitmachen einlädt, geht da gar nichts.
Thomas Gegenhuber, Eine Vision für das digitale Europa: Von der Widerspenstigen Zähmung der Plattformen zu einem digitalen Humanismus, Hg.: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2020, 20 Seiten, Download
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