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Eltern sind für ihre Kinder da, bei Julika Stich (37) war es umgekehrt. Als Siebenjährige übernahm sie die Pflege ihrer Mutter, die zu diesem Zeitpunkt bereits an fortgeschrittener Multipler Sklerose litt. Sie half ihr aus dem Bett, wechselte die Windeln, schob sie im Rollstuhl vor die Haustür. Ein Pflegedienst kam erst ins Haus, als Stich schon 17 Jahre alt war. Bis zum Tod der Mutter, 20 Jahre lang, ordnete die junge Frau ihr Leben dieser gewaltigen Verantwortung unter.
Damit steht sie nicht alleine da. Experten wie die Pflegewissenschaftlerin Sabine Metzing von der Universität Witten/Herdecke schätzen die Zahl der jungen Pflegenden in Deutschland auf knapp eine halbe Million. Julika Stich arbeitet das Erlebte auf ihre besondere Weise auf und spricht darüber mit der Trendinfo-Redaktion: Mit ihrer 2016 gegründeten Initiative „Young Helping Hands“ hilft sie Betroffenen und klärt die Öffentlichkeit über das verschwiegene Thema auf.
Julika Stich:Damit wird jungen Menschen, die sich in einem entscheidenden Entwicklungsprozess befinden, eine große zusätzliche Verantwortung aufgebürdet. Zu dieser Überforderung kommen oft Angst und Hilflosigkeit, schließlich möchte man gerade den eigenen Angehörigen aus Liebe helfen.
Julika Stich:Die Tätigkeiten sind je nach Krankheitsverlauf sehr vielfältig. Das Spektrum reicht von der Hilfe beim Ankleiden über das Anreichen von Essen bis zur Intimpflege. Minderjährige helfen auch bei Behördengängen, erledigen Telefonate und Gespräche. Häufig leisten sie emotionale Unterstützung, ob bei seelischen Erkrankungen oder körperlichen Beeinträchtigungen von Angehörigen. Manchmal leisten junge Menschen rund um die Uhr Betreuung.
Julika Stich:Überforderte Minderjährige leben ihre eigenen Bedürfnisse nicht. Diese im Erwachsenenalter neu zu entdecken, ist die Herausforderung, vor der ehemals Pflegende stehen. Häufig kommt eine innere Erschöpfung hinzu, deren Ursprung nicht immer klar identifiziert wird. Viele Ehemalige sind sich gar nicht bewusst, was sie geleistet haben. Das ist immer noch ein gesellschaftliches Tabuthema, das endlich aufgeklärt gehört.
Julika Stich:Ich kann allen Ehemaligen nur Mut zu sprechen, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Von mir selber weiß ich, dass das manchmal alles andere als bequem ist, sehr verletzend sein kann, aber häufig auch als ein sehr heilsamer Prozess erlebt wird.
Julika Stich:Wir geben keine psychologische Beratung, sondern vermitteln Betroffene gemäß ihrer persönlichen Situation an Beratungsstellen. Unser Schwerpunkt liegt klar in der öffentlichen Aufklärung zur Situation junger Pflegender. Unsere Initiative bekommt viele Medien-Anfragen. Wir sind gut vernetzt mit Ansprechpartnern, die für junge Pflegende arbeiten und mit Beratungsstellen, mit denen wir uns austauschen.
Julika Stich:Ja, es gibt erste Beratungsstellen für junge Menschen mit Pflegeverantwortung. Weiterhin bewegt sich viel auf öffentlicher Ebene, und wir sind dankbar, dass über dieses Thema berichtet wird. Zu nennen sind auch vereinzelte Aktionen für junge Pflegende. So arbeitet in Berlin das Projekt ,,Echt Unersetzlich“, gefördert durch das Diakonische Ẃerk Berlin Stadtmitte e.V. Letztes Jahr fand dort ein Festival für junge Pflegende statt, dieses Jahr ein Zirkusprojekt. Auch die Wissenschaft nimmt sich mittlerweile der Lebenswelt junger Menschen mit Pflegeverantwortung und der Erfahrungen ehemals Betroffener an.
Julika Stich:Alles, was die öffentliche Sensibilisierung für das Thema unterstützt. Hier sind Krankenkassen und Ärzte gefordert, etwa mit der Verteilung guter Info-Broschüren, die es ja inzwischen gibt.
Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt liegt auf politischer Ebene. Wir fordern, pflegende Minderjährige in die Pflegedebatte einzubeziehen. Dazu haben wir in einem öffentlichen Schreiben an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Lösungen unterbreitet.
In unserer Öffentlichkeitsarbeit spielen künstlerische Medien eine große Rolle. Wir sind sehr froh, dass sich die Hamburger Musikkabarettistin und Chansonette Turid Müller mit großem Engagement für unsere Sache einsetzt, zuletzt mit ihrem Song „Unsichtbar“. Man kann ihn auf unserer Homepage anhören. Darüber hinaus wünsche ich mir prominente Botschafter, die für unsere Initiative öffentlich werben. Ich bin sehr zuversichtlich, dass sich auf diesem Gebiet weiterhin viel bewegen wird.
Weitere Informationen:
Selbsthilfeportal von Julika Stich: www.young-helping-hands.de
Online-Beratung, Gruppen, Workshops, gefördert vom Bundesfamilienministerium: www.pausentaste.de
Online-Beratung der Diakonie Berlin: www.echt-unersetzlich.de
Sabine Metzing, Abschlussbericht zum Projekt „Die Situation von Kindern und Jugendlichen als pflegende Angehörige“, Universität Witten/Herdecke, 2018, 152 Seiten
ZQP-Report „Junge Pflegende“, Berlin 2016, 116 Seiten, Download
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