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Droemer 2017, 640 Seiten, 34,- €, ISBN 978-3-426-27719-5
Auf dem Gebiet der Hirnforschung gibt es viele herausragende Wissenschaftler. Einer von ihnen ist Dick Swaab. Schon früh interessierte sich der renommierte niederländische Hirnforscher für das menschliche Gehirn. Er lehrte als Professor für Neurobiologie an der Universität Amsterdam und leitete 30 Jahre lang das niederländische Institut für Hirnforschung. Für den Wissenschaftler stand früh fest: Was schon vor der Geburt in das Gehirn „programmiert“ wurde, lässt sich später nicht mehr ändern. Sein letztes Buch „Wir sind unser Gehirn“ wurde in den Niederlanden zu einem populären Standardwerk. In seinem aktuellen Buch „Unser kreatives Gehirn“ beschäftigt sich Dick Swaab besonders intensiv mit der Frage, wie die menschliche Kreativität im Hirn entsteht – und wie wir leben, lernen und arbeiten.
Unser Gehirn besteht aus 80 bis 100 Milliarden Gehirnzellen. Das sind zwölfmal mehr als Menschen auf der Welt leben. Allein so ein einfacher Vergleich sprengt im Grunde schon jegliche Vorstellungskraft. 1,5 Kilogramm organische Masse, vollgepackt mit über hundert Milliarden Nervenzellen bilden den Kern von jeder menschlichen Persönlichkeit. Hier spielt sich das ab, was jeden Menschen einzigartig macht. Jede einzelne Gehirnzelle für sich genommen ist schon atemberaubend komplex, schreibt Dick Swaab gleich in der Einleitung.
Damit sich das ganze Potenzial des Hirns entfalten kann, ist eine sichere und liebevolle Umgebung notwendig. Werden unsere grauen Zellen zudem durch die Familie, die Arbeit oder die Umgebung stimuliert, steht jede Gehirnzelle mit 1000 bis 100 000 Gehirnzellen in Kontakt. Jeder halbwegs erfolgreiche Netzwerker würde an dieser Stelle vor Neid erblassen. Vor allem, wenn er erfährt, dass an jeder einzelnen dieser Kontaktstellen, den sogenannten Synapsen, die Informationen im Gedächtnis gespeichert werden. „Was uns zu Menschen macht, ist unser spezifisch menschliches Gehirn. Es ermöglicht uns Kultur und Selbstreflexion“, weiß der international geschätzte Hirnforscher Dick Swaab.
„Unser Gehirn ist eine Kreativitätsmaschine, es ist die Grundlage künstlerischen Talents und der Ort, an dem künstlerische Wahrnehmung, Auswahl und Repräsentation stattfinden. Wir gewinnen zunehmend neue Erkenntnisse über die Mechanismen, die sowohl an der Kunstbetrachtung als auch am künstlerischen Schaffen beteiligt sind, sowie darüber, welche Wirkung Erkrankungen des Gehirns auf diese Prozesse ausüben“ (S. 141).
Unser Leben ist komplex: Wir arbeiten, treiben Sport, befassen uns mit Kunst und Musik, sind Teil eines großen sozialen Gefüges. Wie wir leben, was wir tun, aber auch was wir erleiden, das alles prägt unser Gehirn. Das Gehirn nimmt über die Sinnesorgane die Außenwelt in sich auf und erzeugt die Illusion, dass wir uns in dieser vom Gehirn geschaffenen Welt frei und unabhängig bewegen. Der populäre Wissenschaftler richtet seinen Fokus vor allem auf die Wechselwirkung zwischen der Welt und unserem Gehirn, das pausenlos mit einer gewaltigen Flut von Informationen bombardiert wird. Welchen Informationen wir letztendlich unsere Aufmerksamkeit schenken, entscheidet jeder schnell und automatisch, ohne groß darüber nachzudenken.
Unser angeblich ach so freier Wille wird in Wirklichkeit durch Hintergrundinformationen gesteuert, die wir uns zum Beispiel durch Lernen angeeignet haben. Diese Interaktion unseres Gehirns mit unserer Umgebung ist es, die uns zu dem besonderen Menschen macht, der wir sind. Wieso glauben wir trotzdem, dass wir unsere Entscheide selbstbewusst treffen? „Der Eindruck entsteht, weil sich die linke Hirnhälfte im Nachhinein eine stimmige Geschichte ausdenkt, warum wir eine bestimmte Entscheidung getroffen haben“, erläutert Dick Swaab.
Der frühere Professor für Neurologie beginnt bei den Höhlenmalereien und beschreibt ausführlich, dass Kunst eine einzigartige menschliche Errungenschaft ist. Das reich bebilderte Buch ist locker und verständlich geschrieben und wird jeweils mit Zeichnungen der unterschiedlichen Hirnrinden vervollständigt. So wird nachvollziehbar, welche Verbindungen aktiviert werden, wenn wir uns mit Kunst beschäftigen - und das lässt einen beim Lesen immer wieder Staunen. Der Hirnforscher beschreibt kenntnisreich, wie das Gehirn mit visuellen Informationen umgeht, wenn es Kunst von Michelangelo, Picasso oder Rembrandt sieht.
„Es ist ein Werk, in das der Künstler sein Gehirn, sein technisches Können und seine Emotionen hineinlegt, um uns etwas mitzuteilen und auch in unserem Gehirn Emotionen wachzurufen. Dadurch wird die Farbe zu Schönheit, zu etwas Erstaunlichem oder Erschütterndem.“
„Der Künstler hat die Farbe zu Leben erweckt, und die Kunsterfahrung ergibt sich aus dem Dialog des Bildes mit dem Betrachter. Ebenso wie ein Gemälde mehr ist als ein paar Farbkleckse auf der Leinwand, so ist auch ein Gehirn mehr als ein Sack voller roter Moleküle: Es besteht aus einer äußerst grazilen Struktur lebendiger, funktionaler Zellen, die außerordentlich kompliziert mit der Umgebung kommunizieren“ (S. 26).
Für Dick Swaab ist das Gehirn ein hochkomplexes Netzwerk ohne Chef. Es arbeitet weitgehend unbewusst und ist rund um die Uhr aktiv. Seine These: Es sind die grauen Zellen, die im Endeffekt die Kultur und in letzter Konsequenz auch die ganze Gesellschaft prägen. Im Bereich Musik schreibt der Niederländer auch über seine jüdische Familie, über den Großvater, der als Cellist im Konzentrationslager spielen musste. Das bringt einem das Thema Musik und das Gehirn nicht nur sehr nahe, sondern man kann sich auch wunderbar in den Autor hineinversetzen.
„Musik ist für viele Menschen eine der wichtigsten Freuden des Lebens. In einer wissenschaftlichen Studie wurde Musik ebenso hoch bewertet wie Erfolg, Sex und Romantik, und deutlich höher als gut essen oder ein Baby im Arm halten, und auch höher als Literatur oder ein Dessert. (...) Musik hat einen starken Einfluss auf die Entwicklung, die Struktur und die Funktionen unseres Gehirns“ (S.237/238).
Dick Swaab schlägt einen weiten Bogen von der Hirnentwicklung bis in die Welt der Technik. In übersichtlich gestalteten Kapiteln setzt er sich gut nachvollziehbar mit fast jeder denkbaren Frage zum menschlichen Gehirn auseinander. Dazu gehören sämtliche Erkrankungen des Gehirns, genauso wie das kriminelle Gehirn, Suizid und interessanterweise auch aktive Sterbehilfe. Der Hirnforscher bezieht klar Position und plädiert beispielsweise für das Recht auf Beihilfe zum Suizid.
Vieles was vor der Geburt in unser Gehirn „programmiert" wurde, lässt sich später nicht mehr ändern. Veranlagungen für viele Krankheiten, für aggressives und kriminelles Verhalten, aber auch für die sexuelle Orientierung entstehen seiner Ansicht nach bereits vor der Geburt. Deutlich legt er dar, wie selbst die geschlechtliche Identität und die sexuelle Ausrichtung eine Besonderheit im Gehirn ist, die es gilt, kennen und akzeptieren zu lernen. Der Autor hofft, dass sein Buch dazu beiträgt, Stigmatisierungen von Hirnkrankheiten entgegenzuwirken und will stattdessen Verständnis, Erstaunen und Bewunderung für das Gehirn zu wecken.
„Ich bin fest davon überzeugt, dass die einzige wirkungsvolle Waffe gegen diese Stigmata, Tabus und Formen von Verständnislosigkeit und Unwissenheit in Bezug auf Hirnkrankheiten darin besteht, das Interesse für diese phantastische Maschine, die unser Gehirn ist, zu wecken. Diese Maschine ermöglicht es uns, Mensch zu sein und das Leben und die Kultur zu genießen. Darüber hinaus müssen wir deutlich machen, wie verletzlich diese komplexe Maschine von der Zeugung an ist – wofür man niemandem die „Schuld“ geben darf“ (S. 569).
„Unser kreatives Gehirn“ ist ein ziemlich dicker Wälzer, sozusagen ein hirntechnischer Rundumschlag, der zum Nachdenken anregt. Die Themenvielfalt ist beeindruckend, eine Art Gemischtwarenladen, der beim Lesen zur nützlichen Enzyklopädie wird: In dem Kompendium steht wirklich alles, was es zu unserem zentralen Organ zu wissen gibt.
Spannend und beängstigend ist aber auch der Ausblick am Ende der über 600 Seiten:
Die Europäische Union hat ein „Human-Brain-Projekt“ gestartet (und finanziert es mit einer Milliarde Euro), in dem alle Daten über das menschliche Gehirn in einer Software erfasst und die Wirkungsweise des gesamten menschlichen Gehirns mit Supercomputern simuliert werden soll. Mittlerweile haben 150 Wissenschaftler schriftlich gegen die Verfahrensweise des „Human-Brain-Projekts“ protestiert.
Es wird aber wohl noch eine Weile dauern, schreibt Dick Swaab, bis wir über Computer verfügen, die wie das menschliche Gehirn mit Einsicht, Intelligenz und einem Sinn für Humor arbeiten. Die am Leben hängen, sich fortpflanzen und erworbenes Wissen an die nächste Generation weitergeben können.
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