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Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump
DVA, 336 Seiten, 26,- Euro
Der gebürtige Australier Professor Sir Christopher Munro Clark (60) gehört zu den renommiertesten Historikern der Gegenwart. Für die Terra-X-Reihe Welten-Saga des ZDF führte er zuletzt kenntnisreich durch die UNESCO- Weltkulturerbestätten. Unter dem Titel „Die Schlafwandler“ beschrieb der seit vielen Jahren in Cambridge lehrende Historiker 2014 die politisch-diplomatischen Fehltritte mit denen Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Es wurde ein Bestseller, nicht nur in Deutschland, auch in England und den USA.
Die WELT bezeichnete ihn jüngst als „Meister der Grauzonen, der mit seiner komplexen Darstellung des Ursachengemenges vor dem Ersten Weltkrieg in ein Wespennest gestochen hat“. Christopher Clark hat den Kriegsbeginn als Höhepunkt des Imperialismus und als erste Globalisierung gesehen und die Verantwortung für den Ersten Weltkrieg sehr differenziert verteilt. Jetzt hat Christopher Clark die Corona-Krise genutzt: In 13 Essays beschreibt er Politiker und Staatenlenker als „Gefangene der Zeit, von Nebukadnezar bis Donald Trump“:
Christopher Clark spürt gleich im Vorwort unter dem Titel „Wie aus Gegenwart Geschichte wird“ dem Umgang mit großen Pandemien nach, die für ihn zu den ältesten Themen der Menschheitsgeschichte gehören. Covid-19 verläuft zwar längst nicht so tödlich wie die Pest im frühneuzeitlichen Venedig und Florenz, aber die staatlichen Anordnungen wurden damals wie heute auch nur dort angenommen, wo der politischen Herrschaft vertraut wurde und abgelehnt, wenn diese fehlte. Lockdown oder Quarantäne gehören für den Autor zu historisch bewährten Maßnahmen, trotzdem sei die hochtechnologisierte Moderne dem Corona-Virus und seinen Mutationen überraschend hilflos ausgeliefert.
Pandemien in den überfüllten Städten des frühneuzeitlichen Europas wurden, genau wie in heutigen Hotspots, sehr stark von sozialen Strukturen beeinflusst. „Die enormen Unterschiede bei den Todeszahlen korrelieren schon immer mit dem Einkommen und dem Niveau der Gesundheitsversorgung“, schreibt der Historiker und beobachtet verblüfft das heutige Durcheinander von alt und neu.
„Was neu ist an der heutigen Situation ist die Reaktion der Staaten, also die immensen Ausgaben, die man für nötig hält, um den Menschen über diese Krise hinwegzuhelfen“, sagt Christoper Clark im Zoom-Interview mit unserer Autorin. „Wir verteidigen uns als Biomasse gegen den Tod und sind bereit, alles Mögliche aufs Spiel zu setzen, um dies zu erreichen. Das war früher anders, da ging man viel leichtsinniger mit großen, hohen Todeszahlen um. Dazu sind wir heute nicht mehr fähig.“
Für den Autor handelt es sich um eine „exogene Krise, also einen Stopp per Regierungsdekret, bei dem die Weltwirtschaft an sehr schnell eingefroren wurde“. Staatliche Maßnahmen in dieser Reichweite gab es seiner Meinung nach in diesem Ausmaß noch nie.
Mit dem provozierenden Untertitel „Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump“ spannt Christopher Clark einen weiten Bogen von dem grausamen babylonischen Großkönig Nebukadnezar II., der im siebten Jahrhundert vor Christus lebte, hin zum ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. Nebukadnezar II. ist bekannt für die Plünderung Jerusalems und die Zerstörung des Tempels, die das sogenannte „Babylonische Exil der Juden“ einleitete, schreibt der Historiker. Nebukadnezar II. hatte Angst vor seinen Träumen und ist mit der biblischen Erzählung vom Turmbau zu Babel verbunden, der auf dem goldfarbenen Cover zu sehen ist.
Donald Trump dagegen habe die Macht aufgefressen und das Weiße Haus verließ er im Januar als„leere Hülle“: „Trump hatte für das Amt überhaupt nichts übrig, sondern es ging ihm lediglich um die Macht, dieses Amt kurzfristig zu besitzen oder zu besetzen.“ Was beide verbindet ist das „Abstraktum Macht“, wie Christopher Clark es im Interview nennt.
„Beide waren Machtmänner, Menschen der Macht und das will ich dem Leser nahebringen, dieses geheimnisvolle Wesen der Macht.“ Für den Autor ist diese Art Power wie die schwarzen Löcher im Universum: „Wir können sie nicht sehen, weil sie kein Licht abgeben, aber wir sehen sie trotzdem, wegen der Energie um sie herum. Das ist auch bei der Macht so.“ Für den Historiker wird die Macht Trumps nachvollziehbar, wenn man erlebt, wie viele Männer in seinem Kabinett miteinander gewetteifert haben, den Präsidenten zu loben: „I thank the lord, I thank god, that I can serve under a great president like you.“ Erst dieses „demütige, hackenschlagende Verhalten der Kabinettsminister“ zeugt für Christoper Clark von Trumps „höchst persönlichen, in seine Person geronnene Macht.“ Aber woraus sie ist, bleibt für den Autor geheimnisvoll.
Einer der originellsten Texte in dem lesenswerten Sammelband ist dem „Eisernen Kanzler“ Bismarck gewidmet. Dominic Cummings, zuletzt höchster Berater des britischen Premierministers Boris Johnson, gilt als Chefarchitekt der Brexit-Kampagne. In seinem ausufernden, fantastisch selbstentlarvenden Blog ist der geniale Staatsmann Otto von Bismarck für Dominic Cummings die heilige Kuh der politischen Taktik,schreibt Christoper Clark. Der Berater orientierte sich an dessen politischen Strategien und wählte aus den fünf Punkten der „Methode Bismarck“, wie der Historiker es scherzhaft nennt, „gezielte Provokation“ und „aggressive Unberechenbarkeit im Umgang mit dem Parlament“.
Vor allem interessierte Dominic Cummings, dass Bismarcks mit seiner zerstörerischen Unberechenbarkeit, mit seiner nichtlinearen Politik ein Systembrecher war. Christopher Clark erzählt mit hörbarem Vergnügen, dass der Berater altehrwürdige Institute wie die BBC, die großen Universitäten oder das Beamtentum hasste, weil er sie für schwerfällig, konservativ und etwas selbstgefällig links gerichtet hielt. „Eine Art zähflüssiger Blob, den er töten und wegmachen wollte.“ Für den Historiker war das Problem: Menschen wie Dominic Cummings können Kulturkämpfe vom Zaun brechen, aber wissen nicht, wie man neue Strukturen herstellt.
Christopher Clark rückt den unberechenbaren Machtmenschen Donald Trump charakterlich und mental in die Nähe des großmannssüchtigen Narzissmus von Kaiser Wilhelm II. und belegt anekdotenreich: Der „dümmste deutsche Kaiser“ ist als Staatsführer in seiner Dummheit offenbar so einmalig nicht gewesen. Mit Sorge beobachtet der Autor dagegen „einen Mangel an Zukunftsvisionen und eine gefährliche, lebensferne Gegenwartspolitik“. „Der Kern des Problems liegt nicht in der Unsicherheit der Welt an sich, sondern in einer Suche nach etwas, das wir Normalität nennen“, schreibt der bekennende Europäer.
Für den Historiker sind wir schlecht vorbereitet auf das Überraschende. „Wir werden nicht mehr getragen werden von einer gemeinsamen Story, wo wir herkommen und wonach wir streben, haben kein Gefühl mehr für die Fahrtrichtungen der Gegenwart.“ Wobei Christopher Clark einwendet: „Dieses vertrauensvolle Gefühl, dass wir von der Moderne getragen werden, hat es vielleicht nie gegeben.“ Das Vertrauen in die Moderne sei weg, „weil sie eine schmutzige, ökologische Katastrophe geworden ist, die vielleicht zur Klimakatastrophe geführt hat“. Es gibt keinen Schlüssel, wir müssen die Zukunft selbst neu kartieren und neu besetzen“.
Im Grunde genommen bietet die Geschichte für Christopher Clark „keine kompakten Lektionen für die Zukunft, weil alles dem Gesetz des Wandels unterzogen ist“. Die Vergangenheit macht uns trotzdem ganz subtil „klüger und weiser“, weil die Geschichte lehrt: Vieles, was beabsichtigt wurde, kam nicht wie geplant zustande. „Was wir lernen können, ist also die Endlichkeit von Plänen, wie schnell sie ausgehebelt werden können.“
Christopher Clark schöpft in „Gefangene der Zeit“ aus dem großen Fundus seiner Studien und biographischen Monografien. Erhellend, manchmal mit feiner Ironie, stellt er das historische Geschehen, die Handlungsspielräume und die Politikstile der sogenannten Mächtigen in den Zusammenhang ihrer jeweiligen Epoche. In einem Beitrag schreibt der Autor über die Reaktionen auf seinen „Schlafwandler“. Als exzellenter Erzähler gibt er anregende, mitunter ungewöhnliche Einblicke auf machtpolitische Muster und belegt erkenntnisreich: Sie waren alle Gefangene ihrer jeweiligen Zeit.
Weiterführende Links
Christopher Clark - Gefangene der Zeit, in WDR 3, 27.11.2020
"Die politische Macht ist eine sehr geheimnisvolle Substanz", in NDR, 24.11.2020
alle abgerufen am 04.02.2021
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