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Mehr Geld, mehr Personal, mehr Reformen, so lauten die wiederkehrenden Rezepte gegen die Pflegekrise. Prof. Dr. Angelika Zegelin setzt andere Akzente: Mehr Stolz, mehr Selbstsicherheit, mehr Mut! Dann klappt es auch mit strukturellen Reformen in der Branche. Die pensionierte Pflegewissenschaftlerin der Universität Witten/Herdecke schrieb zusammen mit Dr. German Quernheim das Buch „Berufsstolz in der Pflege – Das Mutmachbuch“. Darin beschäftigt sich das Autoren-Duo mit dem Selbstverständnis der Pflegenden in Ausbildung, Praxis und Gesellschaft und gibt reichlich Empfehlungen für ein kämpferisches Selbstbewusstsein des Berufsstands. Im Interview mit der Trendinfo-Redaktion hält die gelernte Krankenschwester nicht hinter dem Berg.
Ich spreche nicht gerne von Pflegekräften, weil die Öffentlichkeit mit diesem Begriff alles einsortiert, was im Pflegebereich arbeitet. Auch Beschäftigte ohne Ausbildung und die Putzfrau auf Minijob-Basis. Ich rede von Pflegefachkräften, Menschen, die qualifiziert sind und einen ganz wichtigen Beruf ausüben. Und ja, denen fehlt es an Mut, die mucken nicht auf, die sehen oft den Wert ihre Arbeit nicht, die streiken nicht.
Jeder Beruf braucht seinen Stolz, eine innere Haltung, ein Bewusstsein für die Besonderheit dessen, was er tut und welcher Beitrag für die Allgemeinheit darin steckt. Diese Einstellung wird von außen durch Anerkennung genährt und ist Grundlage für ein langes erfülltes Berufsleben. Pflegestolz leitet sich im Kern aus dem Bewusstsein ab, eine besondere Dienstleistung in einer existenziellen Situation durch eine ganz persönliche und qualifizierte Art zu erbringen.
Ich habe im Alter von 13 Jahren bei den Städtischen Kliniken in Dortmund als Pflegevorschülerin angefangen und war später 20 Jahre in der Ausbildung tätig. Meine Mutter hat mich sehr inspiriert. Die war mit Leib und Seele Krankenschwester. Von ihr habe ich früh gelernt, was für ein toller und anspruchsvoller Beruf das sein kann. Leider muss ich sagen, dass sich seither wenig zum Besseren verändert hat, aber vieles zum Schlimmeren.
Da ist so viel zu nennen. Allem voran das System der Fallpauschalen im Krankenhaus und die Leistungsabrechnung durch die Pflegeversicherung. Darin kommt die Betreuung von Pflegebedürftigen einfach nicht vor. Die Zeitverdichtung in der ambulanten und stationären Versorgung und die Taktung der Pflege in einzelne Verrichtungen, wie es im Bürokratendeutsch heißt, haben viel kaputt gemacht. Und Personalmangel wird durch Qualifikationsabsenkung beantwortet. Wo bleiben Sorge, Gespräch, Geborgenheit, das Eingehen auf den hilfebedürftigen Menschen? Das Grundproblem sehe ich in der Ökonomisierung und der geringen gesellschaftlichen Wertschätzung für den Pflegeberuf. Ich wurde schon öfter gefragt, ob man für diese Arbeit überhaupt eine Ausbildung braucht.
Das geringe Image der Pflege findet sich so in keinem anderen mir bekannten Land. Ich kenne zum Beispiel die Situation in Großbritannien und Skandinavien aus eigener Erfahrung sehr gut: Da platzen die Pflegefachkräfte geradezu vor Stolz, sind gut ausgebildet und verdienen gutes Geld. Die streiken, wenn es hart auf hart kommt und bekommen ganz viel durch. In Deutschland hingegen hemmt das immer noch vorherrschende caritative Pflegeverständnis in der Tradition der Ordensschwestern eine selbstbewusste Interessenvertretung. Die Zersplitterung der Pflegeszene und der Föderalismus spielen ebenfalls stark hinein. In Schweden steht auf dem Grabstein: „Hier liegt eine Krankenschwester“. Bei uns reicht es nicht einmal zur eigenen Visitenkarte.
Wenn ich etwas über Politik gelernt habe, dann, dass nur derjenige auf sich aufmerksam machen kann, der sich organisiert und Druck ausübt. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe, die größte Interessenvertretung für diese Berufsgruppe, hat 20.000 Mitglieder – bei mehr als 1.7 Mio. Fachkräftenin Kliniken, Altenheimen und ambulanten Pflegediensten. Jeder Schafzüchter in der Republik ist besser aufgestellt! Nicht jammern, sondern sich organisieren, das ist meine Devise. In diesem Zusammenhang bewundere ich die Ärzteschaft mit ihren schlagkräftigen Vertretungsorganen wie dem Marburger Bund und den Kassenärztlichen Vereinigungen. Die mischen in Berlin alle tüchtig mit.
Stimmt, so schlecht verdienen die nicht. Die Schichtzulage kommt hinzu. Aber die Freude am Beruf, seine Attraktivität, hängen nicht nur vom Geld ab. Und vergessen wir nicht, in der Altenpflege erhalten die Beschäftigten bis zu 30 Prozent weniger. Da sind viele Ungelernte tätig. Gerade erst hat sich die Pflegekommission auf höhere Mindestlöhne in der Altenpflege verständigt.
Zuerst muss ich mir klar machen: Was tue ich eigentlich? Wie stärke ich mein Selbstwertgefühl? Dazu gehören professionelles Auftreten, Selbstmarketing, Vorbilder, Emotionsarbeit und Mechanismen des Selbstschutzes. Stolz kann man lernen, bereits in der Ausbildung. Ich plädiere dafür, das Fach Berufsstolz im Curriculum zu verankern. Wer etwas ändern will, sollte sich berufspolitisch engagieren. Auch die Vorgesetzten sind gefragt. Interne Kommunikation, Öffentlichkeitsarbeit und Fortbildung haben einen großen Einfluss auf die Zufriedenheit der Beschäftigten. Natürlich müssen wir auch darüber diskutieren, welchen gesellschaftlichen Wert Pflege hat und welchen Preis wir zu zahlen bereit sind.
Corona betrachte ich als eine Episode. Die entscheidende Frage ist doch, was danach kommt. So war zum Beispiel über weite Strecken der Pandemie von Betten und Beatmungsgeräten die Rede, geradewegs so, als wären das nur simple Gerätschaften. Tatsächlich aber benötigt eine Fachkraft zwei Jahre, um eine solche Behandlungseinheit steuern zu können. Was wir brauchen, ist eine grundlegende Reform des Gesundheitssystems, bei der zuallererst die Fallpauschalen im Krankenhaus abgeschafft gehören. Eine älter werdende Gesellschaft benötigt nun mal mehr Pflege und damit mehr Personal, das ordentlich bezahlt wird und gute Arbeitsbedingungen hat. Das wird alles schon so lange diskutiert, ist aber leider ziemlich festgefahren.
Wir brauchen eine Revolution in der Pflege! Das sage ich ganz offen. Aber ich habe es auch leicht: Ich bin schließlich im Ruhestand.
German Quernheim / Angelika Zegelin, Berufsstolz in der Pflege.
Das Mutmachbuch, Hogrefe-Verlag 2021, 344 Seiten, 39,95 Euro
ISBN 978-3-456-85999-6
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