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Die Süddeutsche Zeitung triumphierte „Künast siegt, endlich“, die Selbsthilfeorganisation Hate Aid sprach von einer „historischen Entscheidung“: In eine Verfassungsklage Anfang des Jahres hatte die Grünen-Politikerin Renate Künast von Facebook die Herausgabe personenbezogener Nutzerdaten erstritten. Damit wollte sie gegen sie selbst gerichtete Beleidigungen auf der Plattform gerichtlich vorgehen. Mittlerweile wurde der Verursacher, ein vom Verfassungsschutz beobachteter Rechtsextremist, identifiziert und verurteilt. Ein überfälliger Meilenstein im Kampf gegen digitalen Hass, belegt doch eine Studie der Universität Leipzig, dass immer mehr Menschen Zielscheibe solcher Attacken werden.
Beleidigung, Herabsetzung und sexuelle Belästigung – wenn von Hatespeech im Netz die Rede ist, geht es vor allem um Gewaltandrohungen und Hassrede auf Social-Media-Plattformen wie Facebook, Instagram, Twitter und YouTube. Das Wirkprinzip ist immer dasselbe: Anonymität und schnelle Vernetzung bei geringem Aufwand. In der Befragung der Leipziger Universität von mehr als 1.000 Personen zwischen 16 und 70 Jahren im Mai waren 24 Prozent der Teilnehmenden von Hatespeech betroffen. In einer vorangegangenen Erhebung 2020 waren es noch 18 Prozent gewesen.
Überraschend eindeutig: Männer (28 %) sind häufiger als Frauen (21 %) Zielscheibe von Hetze. Jüngere Menschen trifft es am häufigsten – von den 16- bis 22-Jährigen ist bereits die Hälfte selbst schon einmal Ziel von Hasskommentaren gewesen. Die Verrohung im Internet schaffe ein Klima der Angst und führe zur Meinungseinschränkung, stellte Studienleiterin Elisa Hoven schon anlässlich ihrer Erstbefragung im Jahr 2020 fest. 50 Prozent der Befragten sind bei eigenen Beiträgen im Internet inzwischen vorsichtiger geworden oder verzichten ganz darauf (2020: 42 %), 73 Prozent derjenigen, die selbst schon einmal im digitalen Kreuzfeuer standen, reduzierten ihre Aktivitäten. „Wenn sich Personen aus der gesellschaftlichen Debatte zurückziehen und der sogenannte ,Silencing-Effekt‘ eintritt, dann ist letztlich nichts weniger als unsere Demokratie bedroht“, sagt Strafrechtsprofessorin Hoven.
Die Problemwahrnehmung in der Bevölkerung nimmt zu, ebenso der Wunsch, digitale Hetze entschlossener zu ahnden, besagt die Expertise. 74 Prozent der Befragten nehmen eine Zunahme der Aggressivität wahr. Jeder zweite ist der Ansicht, dass Hetztiraden im Internet härter bestraft werden sollten als Beleidigungen im direkten Kontakt (2020: 43 %). „Die aktuelle Erhebung weist nicht auf eine Entspannung hinsichtlich der Betroffenheit durch digitalen Hass hin. Im Gegenteil: Der Anteil der Betroffenen wächst und damit der Anteil der Menschen, die sich eingeschränkt fühlen und ein Bedürfnis nach härteren Sanktionen äußern“, fasst die Studie zusammen.
Nicht jede Beleidigung ist strafrechtlich relevant. Dennoch bietet das Gesetz theoretisch ausreichend Möglichkeiten, gegen Beleidigungen, Hass, Gewaltaufrufe und Volksverhetzung vorzugehen. Anonymität, Datenschutz und das Grundrecht auf Meinungsfreiheit stellen die Aufklärung jedoch vor hohe Hürden. Seit einigen Jahren geht die Politik das Problem mit mehreren Gesetzesvorhaben an, hält die Leipziger Studie fest. So wurde das Strafmaß für Beleidigungen im Internet erhöht, und mit dem „Digital Services Act“ in der EU werden Online-Plattformen verpflichtet, Nutzende vor illegalen Inhalten zu schützen. Eine Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) sieht vor, dass soziale Netzwerke wie Facebook strafbare Hasspostings löschen und in bestimmten Fällen dem Bundeskriminalamt melden müssen.
Die Plattformen selbst haben vielfach ihre Moderations- und Löschpraxis angepasst. „Gleichzeitig haben jedoch Themen wie die Corona-Pandemie und der russische Angriffskrieg den Hass im Netz befeuert“, konstatiert die Autorin. Greifen die Maßnahmen also zu kurz? Für eine Bewertung sei es zu früh, die erhöhte mediale Aufmerksamkeit habe möglicherweise auch zu mehr Beschwerden geführt, führt Hoven aus. So habe eine weitere Studie ergeben, dass die „Hassdichte“, also der Anteil der Hasskommentare auf den Facebookseiten großer deutscher Medien wie der Tagesschau, eher abgenommen habe. „Das könnte ein Indiz dafür sein, dass die Plattformen selbst mittlerweile Hasskommentare effektiver löschen“. Auf jeden Fall sei eine entschlossene strafrechtliche Verfolgung von Hass im Internet wichtig – hier habe ein Umdenken in vielen Staatsanwaltschaften eingesetzt, das Problem werde zunehmend ernst genommen.
Dennoch reichen juristische Mittel nicht aus. Ebenso wichtig ist, die Beschwerden von Betroffenen ernst zu nehmen und nicht länger zu bagatellisieren. „Dazu gehört aber auch, Hass im Internet zu melden und aktiv Gegenrede zu leisten, um den Online-Diskurs nicht einigen wenigen, dafür aber umso lauteren Stimmen zu überlassen“, rät Hoven.
Hass im Netz. Ergebnisse einer Studie von Prof. Elisa Hoven, Universität Leipzig und der Forschungsgruppe g/d/p, August 2022, 20 Seiten, Download
Die Bundeszentrale für politische Bildung über den Umgang mit Hass im Internet:
www.bpb.de/252408/strategien-gegen-hate-speech
Hilfsstelle mit emotionaler Unterstützung, Sicherheitsberatung und Prozesskostenunterstützung:
hateaid.org
Gemeinsame Beschwerdeplattform für rechtswidrige Inhalte im Internet von eco-Verband der Internetwirtschaft e.V. und der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter e. V. (FSM): www.internet-beschwerdestelle.de
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