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Es war eine Stimme unter vielen, aber eine Stimme von Gewicht. Kaum war die Wahlschlacht geschlagen und das Ergebnis der Bundestagswahl bekannt, richtete BDI-Präsident Dieter Kempf einen offenen Brief an die künftige Regierung: „Unser Land braucht mehr Tempo, mehr Mut und mehr Weitsicht“, schrieb Kempf. Das sei unverzichtbar, um den Wohlstand in Deutschland zu sichern.
Mit seinem Appell zur kollektiven Wohlstandssicherung rührte der Industrieboss an eine tiefe Befindlichkeit der Deutschen. Das Versprechen vom „Wohlstand für alle“ verbinden sie seit Ludwig Erhard fest mit der Sozialen Marktwirtschaft. In den letzten Jahren werden allerdings zunehmend Zweifel laut, ob die deutsche Wirtschafts- und Sozialordnung noch in der Lage ist, den Wohlstand auch gerecht zu verteilen.
Längst haben sich auch führende Ökonomen in die Diskussion eingeschaltet. So sieht DIW-Präsident Marcel Fratzscher eine wachsende Ungleichheit bei Einkommen, Vermögen und sozialen Chancen. Nach Ansicht von Ifo-Chef Clemens Fuest hingegen sorgen die seit Ende der 1990er Jahre geschaffenen zusätzlichen Beschäftigungsmöglichkeiten im Niedriglohnsektor überhaupt erst für reale Chancen sozialen Aufstiegs. Hinzu komme eine im internationalen Vergleich üppige Umverteilung durch Steuern und Sozialtransfers.
Was stimmt denn nun? Die Frage nach der gerechten Verteilung der Wohlstandsgewinne greift jetzt eine Untersuchung des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung auf. Die Wissenschaftler Manuela Barišić und Andreas Peichl legen in ihrer Studie „‚Wohlstand für alle‘: Wie inklusiv ist die Soziale Marktwirtschaft?“ eine weit über den tagespolitischen Horizont reichende Analyse von Wohlstand und Verteilung in Deutschland vor.
Die Antwort der Forscher, das sei vorweggenommen, ist ein klares Sowohl-als-Auch. Die deutsche Wirtschaft wachse stabil, der materielle Wohlstand sei so groß wie nie, sagen sie. Von 1950 bis 2015 wuchs die deutsche Wirtschaft trotz kurzer Abschwünge um durchschnittlich 6,85 Prozent pro Jahr. Ab Mitte der 1980er Jahre jedoch bahnte sich hinter der stabilen wirtschaftlichen Entwicklung eine soziale Schieflage an, mit zunehmender Tendenz. „In jüngerer Vergangenheit ist die Inklusivität dieser Entwicklung (...) vor allem durch eine ungleichere Verteilung der Einkommen sowie ein höheres Armutsrisiko am unteren Ende der Einkommensverteilung gefährdet“, halten die Studienautoren dagegen.
Der Einkommensanteil der oberen zehn Prozent der Bevölkerung nahm stark zu, während die Mittelschicht signifikante Einbußen hinnehmen musste. „So haben die höchsten Einkommen im Durchschnitt jährlich über 1,3 Prozent gewonnen, während das durchschnittliche Wachstum bei lediglich 0,6 Prozent lag“, schreiben die Autoren. Die unteren 40 Prozent der Einkommen blieben unter 0,6 Prozent und wurden zwei Jahrzehnte lang nur unterdurchschnittlich am Einkommenszuwachs beteiligt. Hinzu kommt seit der Wiedervereinigung ein zunehmendes Einkommensgefälle von West- nach Ostdeutschland, mit regionaler Heterogenität im Osten.
Hinsichtlich der Vermögen lässt sich eine noch ungleichere Verteilung feststellen als bei den Einkommen: Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung verfügen über die Hälfte des Nettovermögens. Die unteren 50 Prozent der Vermögensverteilung hingegen haben laut Studie keinen Anteil am Gesamtvermögen. In den letzten 20 Jahren hat sich diese Diskrepanz noch ausgeweitet. Dabei wären Niveau und Anstieg der Ungleichheit ohne die stark umverteilende Wirkung des deutschen Steuer- und Transfersystems noch größer ausgefallen.
Trotz des Beschäftigungsbooms der vergangenen Jahre ist das Armutsrisiko deutlich gestiegen. In Anlehnung an die relative Armutsdefinition der Europäischen Union stuft die Studie diejenigen Haushalte als armutsgefährdet ein, die weniger als 60 Prozent des Medians der verfügbaren Haushaltseinkommen beziehen. Demnach stieg die Armutsrisikoquote seit der Wiedervereinigung bis heute von zehn auf 14 Prozent an, in Ostdeutschland sogar auf 21 Prozent. Die Dauer von Armutsphasen (Persistenz) nahm ab Mitte der 1980er Jahre von 2,5 auf aktuell knapp drei Jahre zu. Zu Zeiten des Wirtschaftswunders traf das Armutsrisiko vor allem Rentner, heute in erster Linie alleinstehende junge Menschen, junge Familien und Alleinerziehende.
Für ihre zusammenfassende Bewertung, wie sozial die Marktwirtschaft tatsächlich ist, entwickeln die Autoren einen „Indikator für inklusives Wachstum“. Er verrechnet Ungleichheit, Armut und Wirtschaftswachstum zu einem kompakten Messwert. Das Ergebnis: Bis zur deutschen Wiedervereinigung stieg der Indikator steil an und flachte dann merklich ab. Steigende Einkommensgleichheit und Armutsrisiko sind die Treiber des Trends. Die Autoren urteilen in der Sache eindeutig, im Ton diplomatisch: „Die faire Teilhabe an den Wohlstandsgewinnen bleibt (...) auch zukünftig ein Feld großer Herausforderungen für eine tragfähige Soziale Marktwirtschaft.“
„Wohlstand für alle“: Wie inklusiv ist die Soziale Marktwirtschaft? Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2017, 51 Seiten
Soziale Marktwirtschaft
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