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Kunstmann Verlag, München 2017, 180 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-95614-200-0
Axel Hacke (61) gilt als launiger Spötter und Meister der geschliffenen Formulierungen. Das neue Buch des Bestsellerautors ist ein nachdenkliches Plädoyer über so etwas scheinbar Altmodisches wie „Anstand“. Der Kolumnist der Süddeutschen Zeitung (SZ) denkt assoziativ über das Zusammenleben von Menschen nach und fragt sich: Was bedeutet es für jeden einzelnen, wenn im Wirtschaftsleben offensichtlich mit Erfolg betrogen wird? Wenn Rücksichtlosigkeit und Niedertracht an die Macht drängen und dreist lügende Staatenlenker ohne die geringste Spur von Anstand sich brutal durchsetzen? Wenn öffentlich ohne jede Scham in sogenannten sozialen Netzwerken mit hasserfülltem Shitstorms gegen alle Regeln des Anstandes verstoßen wird. In seinem neuen Buch geht es dem preisgekrönten Journalisten um „grundsätzliche Solidarität mit anderen Menschen und um die Frage, wie wir miteinander umgehen“.
Anstand ist für Axel Hacke zunächst ein „schillerndes Wort und zugleich ein ziemlich schwammiger Begriff“. Der Schriftsteller weiß, dass die meisten unter Anstand zunächst das verstehen, was man landläufig als simple Benimmregeln oder gute Manieren bezeichnet: Die Suppe nicht zu schlürfen, die Tür aufzuhalten. Gemeint ist das persönliche Empfinden, Rücksicht aufeinander zu nehmen. Dazu gehört auch: Den kranken Freund zu besuchen, selbst wenn man wenig Zeit hat; sich an der Supermarktkasse nicht vordrängeln, auch wenn man es eilig hat. Aber ist man schon ein anständiger Mensch, wenn man im Bus für ältere Menschen aufsteht?
„Als ich anfing mich mit dem Begriff zu beschäftigen, wollte ich genau das für mich klären: Was ist Anstand? Im Grunde versteht jeder etwas anderes darunter“, so Axel Hacke im anregenden Gespräch mit unserer Autorin. Der preisgekrönte Journalist beobachte schon seit geraumer Zeit: „Es tobt nicht bloß eine Welle, sondern ein ganzer Ozean der Anstandslosigkeit um die Welt“. Wer kann nicht eine Geschichte erzählen, wie er im Schwimmbad, auf der Straße, im Kindergarten oder im Internet wegen einer Nichtigkeit aufs Übelste beschimpft und unflätig beleidigt wurde. Was den SZ-Kolumnisten fassungslos macht: Es ist nicht nur Donald Trump, die ganze Welt ist rücksichtsloser geworden. Trump ist nur der, der am lautesten schreit. Wir haben uns offenbar an ein „unbegreifliches Ausmaß an Schäbigkeit“ gewöhnt.
„Der Zwischenton, das Differenzierte, die Nuance ist in der digitalen Welt nicht sonderlich ausgeprägt.“ Respektlosigkeit ist nicht erst seit Donald Trump salonfähig geworden. Salonfähig ist für Hacke ein anderes Wort für Gewöhnung.
Die Gewöhnung ist für den Autor mehr als ein moralisches Problem. „Hier werden Standards gesetzt, die das „Funktionieren unserer Gesellschaft“ erschüttern“. Die Begriffe „Anstand“ und „anständig sein“ halten viele Ältere noch für etwas Antiquiertes aus der Kindheit. Nach dem Motto: Setz dich anständig hin, geh‘ nicht ohne Hut aus dem Haus, bleib anständig – all das, was man landläufig unter gutem Benehmen à la Knigge versteht. Das gehört für Axel Hacke zwar dazu, sollte aber „durch meine Suche beiseitegeschoben werden“. Der Korrespondent von vielen Fußball-Weltmeisterschaften stellt fest: „Liest man den Ur-Knigge, der erstmals 1788 erschien, geht es um Anstand nur am Rande. Im Vordergrund steht, wie man Menschen grundsätzlich sieht und mit ihnen umgeht. Vor allem geht es um „alle Arten von Menschen“ – und darum geht es auch in meinem Buch“, so Axel Hacke. „Einfache Dinge, wie sich selbst nicht in den Vordergrund stellen oder sich an Regeln halten, selbst wenn gerade mal keine Kamera läuft.“
Axel Hacke geht es in erster Linie auch um den Verlust von Respekt und Höflichkeit, was der vierfache Vater die „weichen Werte des Zusammenlebens“ nennt. Dass er das aktuelle Buch seinen Kindern gewidmet hat, ist kein Zufall. „Das gehört doch zum gesamten Leben: ihnen beizubringen, was es bedeutet, im Leben nicht nur das Eigene im Blick zu haben, sondern auch an andere Menschen zu denken“, beteuert Axel Hacke vehement. „Das ist für mich der Kern, was man unter Anstand versteht und verstehen kann.“ Sein Gegenüber so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte, das ist für den Autor eine Art „Prozess der Zivilisation“. Interessant ist in Zeiten von Bankenkrisen seine Entdeckung, dass das Wort „bürgerlicher Anstand“ in der linken Sozialphilosophie mit „unanständigem Reichtum“ verknüpft wird und mit dem Appell, „seine Gier im Zaum zu halten“.
Aufschlussreich erlebt es der Volksschriftsteller, wie der renommierte Journalist liebevoll genannt wird, „dass Anstand jetzt gerade wieder ein Thema ist, nach Jahrzehnten des Egoismus“. Dazu gehört für den Kolumnisten, dass die Wehrpflicht 2011 einfach abgeschafft wurde, und zwar als Theodor von Guttenberg Verteidigungsminister war. „Keinerlei Diskussion über ein verpflichtendes soziales Jahr. Seitdem fehlt es einfach, etwas für die Gemeinschaft zu tun, ohne dafür viel Geld zu erhalten. Das ärgert mich bis heute.“
Für Axel Hacke ist Anstand eine Haltung und eine Art „sozialer Schmierstoff, der jede beliebige Gesellschaft zum Funktionieren bringt“. Dazu gehören aber auch die dunklen Seiten der 50er Jahre: Kindern prügelnd Anstand einzubläuen oder Mädchen mit dem Verlust der gesellschaftlichen Stellung zu drohen, wenn sie nicht anständig bleiben. Der Autor verleugnet nicht seinen Schock, als er feststellte, dass auch ein Massenmörder wie Heinrich Himmler für sich und seine Kumpane in Anspruch nahm, anständig zu sein. Dass für SS-Männer ein Grundsatz war, „ehrlich anständig, treu und kameradschaftlich zu sein“, was ihnen immer wieder gepredigt wurde.
Nach seinem Artikel über die „Umgangsform Anstand“ in der ZEIT bekam Axel Hacke hunderte Leserbriefe. Ihm fiel auf, dass die meisten hauptsächlich anderen vorwerfen, nicht anständig zu sein, sich unerträglich zu verhalten. „Mir gefällt nicht, wenn man nur auf andere Leute schaut. Nach dem Motto, was mein Nachbar gemacht hat, finde ich schlimm, die anderen sind böse, ich dagegen bin anständig. Anstatt mit dem Finger auf andere zu zeigen, plädiert der „Melancholiker mit den Breitcordhosen“, wie Kollegen Axel Hacke nennen, in seinem Buch vehement dafür: „Was Anstand betrifft, primär erst bei sich selbst gucken. Das ist das Einzige, was man letztendlich im Leben wirklich ändern kann.“ Dazu schreibt der Autor: „Ein Empfinden dafür, dass wir alle das Leben teilen, das gilt für die großen und grundsätzlichen Fragen des Lebens genauso wie für die kleinen alltäglichen Situationen“.
Immer wieder nimmt Axel Hacke Bezug auf Klassiker der Literatur: Albert Camus („Die Pest“), Hans Fallada („Kleiner Mann was nun“), Erich Kästner („Warnung vor Selbstschüssen“), Norbert Elias („Über den Prozess der Zivilisation“) oder die Philosophen Immanuel Kant und Dieter Thomä. Zum anderen diskutiert der Wahl-Münchner mit namenlosen Freunden beim Bier ernsthaft über „Anstand in schwierigen Zeiten“. Sie landen am Ende der Überlegungen beim römischen Kaiser und Philosophen Mark Aurel. „Der empfiehlt, unbeirrt freundlich oder wohlwollend zu sein, auch noch so boshaften, unanständigen, hinterhältigen Menschen grundsätzlich immer erst einmal freundlich zu begegnen“. Für Axel Hacke überraschend: „Ein römischer Kaiser, der die Christen verfolgte und in seinen Schriften ganz christliche Gedanken hatte“.
Die größte Sorge der Menschen weltweit ist, „ausgestoßen zu sein, als Individuum zu verschwinden“. Und die Sehnsucht der meisten Menschen ist, „gebraucht und anerkannt zu werden“, schreibt Hacke. Die Globalisierung und die Digitalisierung erzeugen aber das Gefühl, ausgeliefert zu sein oder die Kontrolle über sein Leben zu verlieren. „Was wäre, wenn diese Sehnsüchte und Sorgen zu genau jenen Verhaltensweisen führen, die jeden Anstand vermissen lassen?“, fragt der Autor abschließend.
Zum Anständigsein gehört seiner Meinung nach: Freundlichkeit, Neugier auf Menschen, für andere da zu sein. Und dabei vielleicht am Ende ein wenig Demut, auch etwas Neugier auf anders denkende Menschen zu entdecken. „Es geht, wenn wir vom Anstand reden, um die Essenz des Menschen, um das Zusammenleben als Einzelner mit anderen. Und dieses Zusammenleben bedeutet nicht, gegen andere anzukämpfen, sondern etwas für sie zu tun.“ Damit Menschen, die versuchen, ein anständiges Leben zu führen, nicht letztlich die Dummen sind.
Ohne einzelne Kapitel oder Überschriften begleitet man den Autor neugierig über 180 Seiten, wie er Informationen sammelt. Was wurde schon vor Jahrhunderten zum Thema Anstand und dem Umgang damit gedacht? Dazu kommen Fakten und Anekdoten, Geschichten aus dem aktuellen politischen Leben, von denen man so oder so schon mal gehört hat. Axel Hacke mischt klug und differenziert Zitate und Gedanken mit aktuellen Beobachtungen und stellt fest: Den Jungen und längst auch vielen Alten fehlt oft jedweder Anstand. Trotzdem ist das Buch „keine Anstandsfibel“.
„Meine Gedanken verstehe ich als Vorschlag, dass jeder sich selbst fragt: Was bedeutet Anstand in meinem Leben?“, erläutert Axel Hacke. Letztendlich zählen für jeden Menschen zwar andere Dinge, aber es geht darum: Sein Gegenüber so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte. Wir schulden unserem Gegenüber, selbst wenn sie uns fremd sind, wir sie vielleicht unverschämt oder dumm finden, trotzdem den Versuch jener freundlichen Solidarität, die die Grundlage dessen ist, was wir menschlichen Anstand nennen könnten.“
Weitere Informationen:
www.zeit.de/2017/35/anstand-gesellschaft-zusammenleben-ruecksicht
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Susanne Bauer
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