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Der monströse Fall des ehemaligen Krankenpflegers und Patientenserienmörders Niels H. aus Niedersachsen wirft ein Schlaglicht auf ein Problem, das bislang vor allem in Fachkreisen diskutiert worden ist: Gewalt in der Pflege. Wie verbreitet ist Gewalt in Pflegeeinrichtungen? Was sind die Ursachen, was wird dagegen getan? Eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung e.V. (DIP) und der B. Braun-Stiftung stellt fest: Gewalterfahrungen gehören für beruflich Pflegende zum Alltag. Dennoch werden sie in den Einrichtungen kaum aufgearbeitet. Fazit von DIP-Direktor Frank Weidner: Wir brauchen eine neue Kultur des Hinschauens und der Achtsamkeit.
In der DIP-Studie von Ende 2016 wurden 1.200 Teilnehmer eines Pflege- Fortbildungskongresses zu ihren Erfahrungen mit Gewalt in den vergangenen drei Monaten befragt, 402 Pflegefachkräfte und Pflegeschüler antworteten. Es handelt sich demnach um eine Zufallsstichprobe, auch wurde kein einheitliches Gewaltverständnis zugrunde gelegt. Der Begriff „Gewalt“ ist jedoch vielschichtig: Verbale Übergriffe zählen ebenso dazu wie Vernachlässigung, freiheitsentziehende Maßnahmen und körperliche Gewalt. Trotz dieser methodischen Einschränkungen gibt die Studie doch einen interessanten Einblick in das Thema „Gewalt im Pflegeheim“, denn die Befragten sind alle Pflegekräfte und täglich nah dran an den Pflegebedürftigen.
Knapp ein Drittel (30,8 %) der Befragten gab danach an, dass Maßnahmen gegen den Willen von Patienten oder Pflegebedürftigen oft vorkamen, konkrete Gewaltanwendungen beobachteten rund elf Prozent. Nur 9,5 Prozent erklärten, in den zurückliegenden drei Monaten nie Maßnahmen gegen den Wunsch der Patienten/Pflegebedürftigen erlebt zu haben.
Gleichzeitig glaubten zwei Drittel (69,4 %) der Befragten, drohende Gewaltsituationen frühzeitig erkennen zu können. Etwas mehr als die Hälfte (52,8 %) fühlte sich in der Lage, mögliche Gewalt zu deeskalieren. Weniger sicher fühlen sich die Pflegekräfte aber im konkreten Umgang mit Gewalt gegen Pflegebedürftige: Während sich bei den Pflegefachkräften 48,5 Prozent in solchen Situationen sicher bis eher sicher fühlen, waren es bei den befragten Pflegeschülern nur 39,1 Prozent.
Dass Gewalt in ihren unterschiedlichen Facetten in der Pflege ein Problem ist, zeigt auch eine Studie, die das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) im Juni dieses Jahres vorgelegt hat: Hier wurden 250 Pflegedienstleitungen und Qualitätsbeauftragte befragt. 47 Prozent gaben an, dass sie „Konflikte, Aggression und Gewalt in der Pflege für ein Thema halten, das die stationären Pflegeeinrichtungen vor ganz besondere Herausforderungen stellt“.
Problem also erkannt – doch wie geht man in den Einrichtungen damit um? Laut ZQP-Studie gaben 46 Prozent der Befragten an, dass es in ihren Heimen kein speziell geschultes Personal im Umgang mit Aggression und Gewalt gibt. 28 Prozent sagen, dass Gewaltereignisse nicht im Fehlerberichtssystem angegeben werden könnten.
Auch die DIP-Studie kommt hier zu keinen ermutigenden Ergebnissen: Eine Aufarbeitung von Gewalterfahrungen finde in den Einrichtungen überwiegend nicht statt. So sagten rund 68 Prozent der Befragten, dass gewalttätiges Verhalten gegenüber Pflegeheimbewohnern sehr selten bis nie aufgearbeitet wird. Nur knapp ein Drittel (31,6 %) berichtete, dass das Thema Gewalt in der eigenen Einrichtung thematisiert wird, beispielsweise durch Aktionstage oder Fort- und Weiterbildungen. Und nur rund 23 Prozent konnten bestätigen, dass es ein Deeskalationsmanagement gibt.
78,3 Prozent der Befragten wünschen sich laut DIP-Studie mehr Weiterbildung im Umgang mit Gewalt in der Pflege. Dem stehe jedoch ein nur geringes Bildungsangebot gegenüber, kritisieren fast zwei Drittel (64,4 %) der Umfrageteilnehmer.
Die Autoren kommen daher zu dem Schluss: Die Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt muss in Ausbildung und Betrieb dringend intensiviert werden. Benötigt werden „wirksame Angebote der Prävention und Aufarbeitung von jeglichen Gewaltsignalen und -erfahrungen in der Pflege“. Außerdem müsse es mehr anonyme Meldesysteme für kritische Ereignisse geben. So kannten nur knapp 46 Prozent der befragten Pflegekräfte und -schüler solche Anlaufstellen. Hier ist noch viel Luft nach oben.
Auch die befragten Pflegedienstleitungen und Qualitätsbeauftragten der ZQP-Untersuchung aus 2017 haben einen Wunschkatalog: 74 Prozent halten eine Fehlerkultur in der Einrichtung für sehr wichtig, jeweils 44 Prozent wünschen sich eine bessere fachliche Ausbildung zu den Themen Aggression und Gewalt sowie spezifische Unterstützungsprogramme.
Mehr Sicherheit im Umgang mit Gewalt zu gewinnen – das ist in doppelter Hinsicht sinnvoll. Denn auch Pflegekräfte werden Opfer von Gewalt: So haben knapp 14 Prozent der Befragten der DIP-Studie angegeben, in den vergangenen drei Monaten selbst Gewalt durch Pflegebedürftige erfahren zu haben.
Gewalt in der Pflege ist weit verbreitet. Die Verfasser der Studien von DIP und ZQP fordern daher zu Recht mehr Angebote zur Gewaltprävention, mehr anonyme Meldesysteme und eine bessere Fehlerkultur in den Einrichtungen.
Doch nicht nur die Pflege, auch die Politik ist gefordert: Denn eine wichtige Ursache für die Gewalt in der Pflege ist die Überforderung und Überlastung des Pflegepersonals – was sich unter anderem deutlich im Krankenstand widerspiegelt: So hatten die Beschäftigten in Alten- und Pflegeheimen mit rund 24 AU-Tagen die meisten Fehltage (Durchschnitt aller Beschäftigten AU-16 Tage, BKK Gesundheitsatlas 2017). Hauptursache für die Fehlzeiten sind psychische Störungen, gefolgt von Muskel- und Skeletterkrankungen. Ohne eine bessere Personalausstattung in Alten- und Pflegeheimen wird sich daran wohl nichts ändern.
Frank Weidner, Studie zu Gewalt in der Pflege, Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung e.V. (DIP), www.dip.de
ZQP-Befragung „Gewaltbarometer“, 14. Juni 2017, www.zqp.de
BKK Gesundheitsatlas 2017, www.bkk-dachverband.de
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