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Westend Verlag Frankfurt 2021, 224 Seiten, 18,- Euro
Emran Feroz ist österreichisch-afghanischer Journalist und Buchautor. Die aktuelle Lage in Afghanistan bestürzt ihn und macht ihn zugleich wütend – aber sie überrascht ihn keineswegs. Emran Feroz berichtet seit vielen Jahren über Afghanistan für Medien in Deutschland, Österreich und den USA. Als Interviewpartner ist er aktuell häufig zugeschaltet im Radio, Fernsehen oder bei Newssendern wie CNN. Für Emran Feroz war der Krieg gegen den Terror in Afghanistan schon vor langer Zeit verloren gegangen. Er schreibt vor allem gegen die Verklärung an, mit der westliche Gesellschaften die Kriege gegen den Terror betrachten, die sie nach dem 11. September 2001 begonnen haben.
„Mit dem 11. September 2001 wurde ich wider Willen zum Afghanistan-Erklärer“, schreibt der Journalist im Vorwort. „Emran, ihr seid doch aus Afghanistan", habe die Grundschullehrerin ihn, den damals Neunjährigen vor versammelter Klasse gefragt. „Weißt du, warum die das gemacht haben?" Stotternd habe er, 1991 in Innsbruck geboren, gesagt: „Bin Laden ist kein Afghane, haben meine Eltern gesagt.“ In der Pause meinten meine Mitschüler, mein Land habe es wohl verdient, bombardiert zu werden und fragten: „Ist Bin Laden Dein Onkel?“ Heute weiß Emran Feroz, dass es vielen so erging: In der gesamten westlichen Welt begann eine Welle der Islamfeindlichkeit. Viele Kinder wurden, weil sie Muslime waren oder für solche gehalten wurden, in ihren Schulen drangsaliert, gemobbt und schikaniert, schreibt der Autor.
Heute erklärt Emran Feroz das Heimatland seiner Eltern, die aufgrund der sowjetischen Intervention nach Österreich geflohen waren, beruflich: Die „Unwissenden und Ignoranten, mit denen ich mich bis heute auseinandersetze, sind in erster Linie Historiker, Feuilletonisten, Journalisten und Politiker“. Für seine Recherche reiste der Journalist mehrfach durchs Land, sprach mit Führern der Taliban, afghanischen Zivilisten und dem ehemaligen afghanischen Präsidenten Hamid Karzai (2001-2014).
Spannend beschreibt Emran Feroz, wie der erste Präsident Afghanistans im 21. Jahr-hundert, Hamid Karzai, überhaupt an seine Position kam. „Der paschtunische Stam-mesführer mittleren Alters“ sei praktisch ein Niemand gewesen. „Doch er wusste, dass seine Zeit gekommen war.“ Was ihn von den Taliban unterschied, dass er kein Krieger, sondern Diplomat und Politiker gewesen sei. Vor dem Einmarsch der Taliban ist der inzwischen gestürzte, zweite afghanische Präsident Aschraf Ghani geflohen und erhielt Asyl in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Sein Vorgänger Hamid Karzai, der im ganzen Buch immer wieder auftaucht, verhandelt dagegen mit den Taliban über die politische Zukunft des Landes.
Der letzte Aufenthalt des Autors in Afghanistan im Frühjahr dauerte zwei Monate und so gelang es ihm, Geschichte und Gegenwart sowie seine direkten Erfahrungen und die Berichte seiner Gesprächspartner eindrücklich zu verweben - und Emran Feroz schildert die Taliban als real-existierenden Bestandteil der afghanischen Gesamtlage. „Extremistische Akteure wie die Taliban sind ein großer Teil des Problems. Allerdings sind sie in erster Linie ein Symptom und nicht die Ursache.“ Im österreichischen Magazin „Standard“ plädierte der Autor im Umgang mit den Taliban für Umsicht und Zurückhaltung. „Die Taliban geben sich gerne kosmopolitisch, schließlich sollen Hilfsgelder in ihre Kanäle geleitet werden. Nur Kenntnisse schützen vor Illusion“. Ein Interview mit einem jungen Taliban-Sprecher auf Al Jazeera habe auf YouTube binnen kürzester Zeit über eine Million Klicks gehabt: „In der englischsprachigen Welt stieß der junge Mann auf sehr viel Wohlwollen und Zustimmung“, so Emran Feroz.
Zwei Themen, die in der Debatte über Afghanistan immer wieder thematisiert werden, ging der Autor bei seinen lesenswerten Interviews und Recherchen konsequent auf den Grund. Einer der gravierendsten Fehler ist für den Austro-Afghanen, dass der Westen nicht verstanden habe, wie unterschiedlich die Bevölkerung in Afghanistan tickt. Der Westen habe während seines Einsatzes nur auf die städtische Elite geachtet. Emran Feroz arbeitet die immense Korruption der Eliten in Kabul und ihre Verstrickung in Kriegsverbrechen auf, die der Westen nicht nur ignorierte, sondern sogar beförderte.
Zum anderen schildert er das unfassbare Leid, das der „vermeintliche Krieg gegen den Terror bei jenen Menschen erzeugte, die er eigentlich befreien sollte“: Dazu gehören für Emran Feroz willkürliche Drohnenangriffe, nächtliche Razzien, systematische Folter und verbrecherische Übergriffe seitens der Soldaten aus dem Westen. Und der Autor erinnert auch an die Affäre von Kundus: Bis zu 150 Menschen starben, als auf Anforderung der Bundeswehr 2009 zwei gestohlene Tanklaster bombardiert wurden. Die zivilen Opfer wurden nie entschädigt, der befehlende Oberst später zum General befördert, Arte und ARD versuchten mit dem Doku-Drama „Die mörderische Entscheidung“ und Matthias Brandt in der Hauptrolle die tragische Gemengelange fiktional aufzuarbeiten.
Für die Süddeutsche Zeitung (SZ) ist Emran Feroz' Buch kein nüchternes Gutachten, sondern eine Anklage, die mancher teils als zu scharf und einseitig empfinden wird: „Stören werden sich einige Leser - vor allem in Ministerien und Medienhäusern - auch an Feroz' Furor etwa in Bezug auf die orientalistischen Sichtweisen, die er in der Afghanistanpolitik und der Berichterstattung über das Land wahrnimmt.“ Man könnte sagen, der Autor ist befangen, wahrt nicht die sogenannte journalistische Neutralität, was für das Verständnis der komplexen, schwierigen afghanischen Situation kein Nachteil sein muss. Für die SZ werden die Standpunkte von Emran Feroz Relevanz haben, auch wenn der Westen seine Soldaten aus dem Land längst abgezogen hat.
Kern des lesenswerten Buches sind die sechs großen Vergehen, wie der Journalist es nennt. Neben „Terror durch Folter“, „Wardlordismus, Korruption und die Lüge der Demokratie“ ist am überraschendsten die „Generierung von Fluchtwellen und Massenabschiebungen“ und „das Märchen von der Frauenbefreiung“. Die Auswahl der männlichen Journalisten, die stets mit Dolmetscher und Führer unterwegs sind und die Welt durch eine dicke Orientalismusbrille sehen, wie Emran Feroz es nennt, gelten gleich nach ihrer Rückkehr als „ausgewiesene Experten“, die angeblich Kultur und Traditionen kennen, in Wirklichkeit aber krampfhaft nach Geschichten gesucht haben, die gewisse Weltbilder bedienen. Zu den „ernüchternden Realitäten“ gehört für Emran Feroz die Afghanistan-Papers, deren Enthüllung für ihn keine war.
„Quo vadis, Afghanistan“ fragt Feroz am Ende, beschreibt, dass selbst sein Vater seit 40 Jahren nicht mehr nach Afghanistan zurückgekehrt ist, „weil er den Anblick seiner Heimat nicht ertragen würde und weil jenes Land, in dem sie geboren wurden nicht mehr existiert“. Dass sich der Status quo in Afghanistan in absehbarer Zeit zum Positiven ändert, sei leider unwahrscheinlich, bilanziert der Austro-Afghane. „Der Einsatz der westlichen Soldaten mag vorbei sein. Der „War on Terror" ist es nicht.
20 Jahre NATO-Einsatz in Afghanistan – dieser militärisch mageren Bilanz stellt Emran Feroz ein mindestens ebenso ernüchterndes Fazit aus afghanischer Perspektive gegenüber. „Der längste Krieg“ ist keine besonnene, ausgewogene Expertise, vielmehr analysiert der Autor die Ursachen für das Scheitern des Westens aus afghanischer Sicht. Was als bittere Bilanz des Austro-Afghanen zu „20 Jahren War on Terror" geplant war, bekam durch den überstürzten Abzug der US-Amerikaner und der NATO-Kräfte und die Machtübernahme der Taliban eindringliche Aktualität. Die Ereignisse in Afghanistan haben manche Analysen von Emran Feroz zwar weitgehend überholt. Aber sie beantworten dennoch komplexe Fragen wie: „Wie konnte dieser Staat so schnell kollabieren?", die sich nach der Machtübernahme der Taliban Politiker, Analysten, Geheimdienstler und Journalisten mit einiger Überraschung stellten.
Autorin: Maicke Mackerodt
Weiterführende Links
https://www.ipg-journal.de/interviews/artikel/fragwuerdige-verbuendete-5370
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1155696.war-on-terror-ploetzlich-der-afghane.html
alle abgerufen am 08.09.2021
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