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Die Zivilgesellschaft ist ein scheues Wesen. Aus dem Stand erhebt sich das multiple Geflecht gemeinnütziger Initiativen und Vereine zu wahren Glanzleistungen, um sich dann wieder in die stille Arbeit zwischen Ernüchterung und Neubesinnung zurückzuziehen. So war es bei der „Willkommenskultur“ 2015 und zu Beginn der Corona-Krise 2020. Wo stehen wir heute, eineinhalb quälend lange Jahre nach Ausbruch der Pandemie? Eine Studie wartet mit düsterem Befund auf: Demnach hat das Virus die Zivilgesellschaft in Deutschland mit großer Wucht und in ihrer ganzen Breite getroffen.
Der Untersuchung liegt eine von der Berlin University Alliance zusammen mit dem Institut für Protest- und Bewegungsforschung (Berlin) durchgeführte Online-Befragung von 1.066 Vereinen und Initiativen in bundesweit 55 Orten vor. Die Befragung fand im November und Dezember 2020 statt. Zentrale Aussage: Viele Organisationen mussten ihre Aktivitäten einschränken oder ganz einstellen. Konnte die Zivilgesellschaft bei der Bewältigung der sog. Flüchtlingskrise noch unverzichtbare Hilfe leisten, wurde sie von der Pandemie selbst getroffen. Allerdings behaupteten sich bestimmte Organisationsformen besser als andere. „Das könnte nachhaltige Auswirkungen auf die Struktur der post-pandemischen Zivilgesellschaft in Deutschland haben“, so die Prognose.
Keine zivilgesellschaftliche Gruppierung blieb von der Corona-Krise verschont. Die Unterschiede liegen im Ausmaß der Betroffenheit und darin, wie sehr speziell coronabezogene Hilfeleistungen neue Betätigungsfelder eröffneten.
Der Erhebung zufolge berichten drei Viertel der Organisationen von nachteiligen Auswirkungen der Pandemie auf ihre Arbeit (72 %). Ebenso viele mussten ihre Haupttätigkeit im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 einschränken oder komplett einstellen. Knapp die Hälfte der Organisationen erlitt wirtschaftliche Einbußen.
Entscheidend für die Krisenauswirkungen war der Tätigkeitsbereich. So traf es vor allem die Organisationen in Sport, Freizeit (80 %), Kultur (75 %) und Bildung (63 %), also Branchen, in denen Menschen zusammentreffen und das gemeinsame Tun nur schwer oder gar nicht digital zu realisieren ist. Organisationen im Bereich der sozialen Hilfe mit stark nachgefragten Leistungen waren am wenigsten beeinträchtigt. Allerdings konnte die Hälfte von ihnen nur eingeschränkt arbeiten.
Die Pandemie bewirkte nicht nur Einschränkung und Stillstand, sondern stieß auch neue zivilgesellschaftliche Aktivitäten an. 40 Prozent der Organisationen boten Krisenhilfe für Betroffene an. „Davon haben fast 25 Prozent ihre Tätigkeit angepasst oder erweitert, um Betroffene während der Pandemie zu unterstützen“, fanden die Wissenschaftler*innen heraus. Typische Aktivitäten dieser Art waren Homeschooling, Hausaufgaben- und Nachbarschaftshilfe, die Betreuung einsamer Menschen und Vorleseaktionen. Fast zwölf Prozent der Organisationen im Bereich sozialer Unterstützung war im Sommer 2020 sogar aktiver als 2019, belegt die Studie. Damit gelang es, den Kontakt zur eigenen Zielgruppe nicht abreißen zu lassen und neue Adressaten zu gewinnen.
Digitale Kompetenz erwies sich für zivilgesellschaftliche Gruppierungen wie überall als Vorteil in der Pandemie. Wer Kommunikation und Aufgabenbewältigung auf digitale Formate umstellen konnte, schätzte die krisenbedingten Einschränkungen als deutlich weniger gravierend ein. 45 Prozent der befragten Organisationen berichten von einem starken Digitalisierungsschub in ihrer Arbeit. Nichtsdestotrotz blieben zentrale Probleme oft ungelöst: die Unmöglichkeit, bestimmte Arbeiten in den digitalen Raum zu verlagern (Sport, musische Bildung, Arbeit mit sozial Benachteiligten), weiterhin hoher Organisationaufwand und das Überangebot digitaler Formate.
Rein ehrenamtlich organisierte Initiativen sind die am stärksten betroffenen Organisationsform (77 %): „Sie werden stärker in ihren Tätigkeiten ausgebremst, konnten ihre Kooperationsbeziehungen weniger gut aufrechterhalten und haben häufiger Probleme mit der Digitalisierung ihrer Arbeit als Vereine, die über hauptamtliche Mitarbeiter*innen verfügen, oder informelle Initiativen.“ Letzteren gelingt es aufgrund ihrer flexiblen Arbeitsweise am besten, sich mit der digitalen Neuausrichtung und den speziellen Bedürfnissen von Hilfsbedürftigen zurechtzufinden.
In der Krise zeigte sich der Nutzen belastbarer Kooperationen. Je mehr und sektoral vielfältiger die Kontakte und Netzwerke, desto besser kamen die Gruppierungen durch die pandemiebedingte Durststrecke. Ein Drittel (37 %) der Organisationen, die bereits vor Corona Beziehungen zu Staat, Wirtschaft oder Zivilgesellschaft unterhalten hatten, erhielt auch während der Pandemie Unterstützung. Unter den Organisationen ohne Beziehungen waren es nur zwölf Prozent. Für kleine Organisationen war das mitunter bitter – ohne Budget fehlte ihnen auch die Unterstützung. „Resilienz erweist sich also auch als Ressourcenfrage“, unterstreicht die Studie.
Die Untersuchung offenbart „deutliche Spuren“ der Pandemie in der Zivilgesellschaft. Vereine ohne Hauptamtliche sowie Organisationen aus den Bereichen Freizeit, Kultur und Veranstaltungsorganisation wurden am schwersten getroffen. „Der zum Teil längerfristige Rückgang zivilgesellschaftlicher Aktivität, über den ersten Lockdown hinaus, stimmt nachdenklich, weil der Zivilgesellschaft als ,Wiege des Sozialkapitals‘ sowie als kritische Instanz und demokratische Kontrollinstanz bei der Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen eine wichtige Rolle zukommt.“
Bei der Organisationsform zeigten sich große Unterschiede zwischen professionalisierten Vereinen mit hauptamtlichen Beschäftigten und rein ehrenamtlichen Vereinen. Hauptamtliche lassen die Organisationen in der Krise wirkungsvoller reagieren. Zugleich wächst die Bedeutung informeller Initiativen, was einen Strukturwandel der Zivilgesellschaft zeigt. Demnach verliert die feste Bindung an Vereine und andere formale Organisationen an Relevanz, während individuelle und flexible Formen des Engagements zunehmen. „Die spezifischeren Auswirkungen dieses Strukturwandels für die Stabilität und für die Qualität zivilgesellschaftlichen Engagements bleiben bislang allerdings unterbelichtet.“
Swen Hutter / Simon Teune / Daphi Simon u. a., Deutschlands Zivilgesellschaft in der Corona-Pandemie. Eine Befragung von Vereinen und Initiativen, Institut für Protest- und Bewegungsforschung (IPB), Working Paper 3/2021, Berlin, 23 Seiten
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