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Verlag Kein + Aber, Zürich/ Berlin 2019, 180 Seiten, 20 Euro
Neuseeland ist ein Land mit starker sozialdemokratischer Tradition. 1856 gegründet, galt der kleine Pazifikstaat schon bald als Musterbeispiel eines Wohlfahrtsstaats. Neuseeland führte als erstes Land der Welt das Frauenwahlrecht ein, legte schon früh Mindestlöhne fest, schuf eine Altersversorgung und etablierte staatliche Schiedsgerichte, die Streitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern schlichteten. Internationale Politiker und Forscher bezeichneten den kleinen isolierten Pazifikstaat als Laboratorium der Welt. Mehr als 100 Jahre später ist Neuseeland zwar eins der reichsten Länder der Erde, trotzdem leben fast ein Drittel der Kinder in Armut. Verena Friederike Hasel hat mit ihrem Mann und ihren drei Kindern ein halbes Jahr in Neuseeland gelebt. Die Journalistin wollte wissen: Wie geht Schule in einem Land, das im Bildungsranking ganz weit vorn liegt? Über ihre Erkenntnisse, Beobachtungen und Begegnungen hat sie ein Buch geschrieben.
Fast dreißig Prozent der Schulen liegen in Neuseeland auf dem Land. Dorflehrer sind am anderen Ende der Welt die Regel. Von ihnen hängt ab, ob die Bildung im ganzen Land gelingt, schreibt Verena Friederike Hasel. Neugierig geworden, hospitierte die Journalistin in zwölf Schulen, sprach mit Lehrern, Direktoren, Bildungswissenschaftlern. Es dauerte eine Weile, bis die Autorin verstand: Die Neuseeländer haben ihr Schulsystem in den 1980er Jahren so radikal umgebaut, dass internationale Bildungsforscher die Reform als „Erdbebenmethode“ bezeichnen. Was Hasel vor anderthalb Jahren noch nicht wusste: Das Bildungssystem in dem Pazifikstaat ist „phänomenal“, wie die Autorin es heute ausdrückt.
Für die Autorin gleicht die Bildungspolitik in Neuseeland einem Marathon, der mit Ausdauer und Weitblick absolviert wird. Nicht nur das Schulcurriculum wurde von Lehrern, Eltern, Schülern, Wissenschaft und Politik gemeinsam entwickelt. Auch die Ureinwohner des Landes, die Maori hatten ein großes Mitspracherecht, die Kinder lernen in der Schule sogar ihre Sprache und singen ihre Lieder. Das stärkt für die Psychologin das ungewöhnlich starke Zusammengehörigkeitsgefühl. Selbst das solidarische Schulmotto stammt von den Maori. Dazu gehört auch: Der Direktor der Schule ihrer ältesten Tochter begrüßt morgens alle Schulkinder einzeln und verabschiedet sie nachmittags freundlich. „Wie ein Gastgeber“, schreibt die Autorin, die auch staunend feststellte: „Kinder und Lehrer kommen entweder barfuß oder mit Flipflops zu Schule.“
Eigentlich wollte Verena Friederike Hasel mit ihrem Mann und den drei Töchtern in Neuseeland für sechs Monate die Schönheit der Natur genießen: wandern, campen, paddeln. Gelebt wurde in einer Holzhütte etwa 100 Meter vom Meer entfernt. Die achtjährige Tochter besuchte die Schule in Narrow Neck, einem Örtchen in der Nähe von Auckland. Die beiden Schwestern gingen in den Kindergarten. Nach ein paar Monaten beschloss die fünfjährige Tochter: Sie will auch zur Schule gehen – und das war problemlos möglich.
In Neuseeland gibt es keinen festen Einschulungstermin mit Schultüte und jeder Menge auf-geregter Eltern, die mit dem Smartphone den ersten Schultag filmen. Kinder können flexibel und unspektakulär das ganze Jahr über in die erste Klasse einsteigen. Anfangs war die Psychologin Hasel eher skeptisch, zumal sie entdeckte, dass die Schulklassen in Neuseeland mit fast 50 Kindern überraschend groß sind. Das Klassengröße ist dort eher nebensächlich, während sich in Deutschland über eins immer alle einig sind: Nur kleine Klassen sind gut.
„Das war auch meine Überzeugung“, sagt Verena Friederike Hasel im Gespräch mit unserer Autorin. „Dann stellte ich fest, große Klassen funktionieren sehr gut, manchmal sogar viel besser.“ Die Psychologin beobachtete, dass es keine festen Rollen gab, folglich keine Außenseiter, keinen Klassenclowns. „Weil es viel Bewegung und sich ständig verändernde Gruppen gibt, fielen feste Hierarchien unter den Kindern weg, es gab viel mehr Flexibilität.“ Der zweite Grund: In Neuseeland unterrichten Lehrer nie alleine. „In der Klasse meiner jüngeren Tochter waren sogar fünf Lehrer, weil sie sagten, Erstklässler brauchen noch mehr Unterstützung. Die haben sich einzeln eine Gruppe von Kindern rausgegriffen und mit denen gearbeitet, während die an-deren spielen konnten.“ In der Klasse ihrer älteren Tochter waren immer zwei Lehrer und diese Teamarbeit zu sehen, war für die Journalistin „etwas ganz Besonderes. „Die Lehrer sind totale Teamplayer“. Und das Schulleitprinzip heißt auf maorisch „Whanaungatanga“.
„Whanaungatanga ist ein Grundkonzept bei den Maori“, so die Autorin. Als ehemalige See- und Kanufahrer wissen Die Maori: Dem Einzelnen geht es nur so gut wie der Gemeinschaft. „Als ich in der Mittagspause in die Schule kam und ins Sekretariat ging, saßen zwei Kinder am Schultelefon, damit die Sekretärin Pause machen kann“, erzählt Verena Friederike Hasel. „Als ein Junge in der Klasse meiner älteren Tochter Krebs hatte, rasierten sich alle Jungs aus Solidarität radikal die Haare ab. Als Ausdruck des Aufeinander Achtens, also Whanaungatanga.“
Neuseeland ist ein Pazifikstaat, der sich als Gemeinschaftswesen empfindet. Das gilt auch für die Schulen, beobachtete Verena Friederike Hasel. Wenn sie in ihrem lesenswerten Buch „Der tanzende Direktor“ über den Schulunterricht schreibt, fühlt man ich zunächst an freie Schulen oder alternative Pädagogikkonzepte wie Waldorf und Montessori erinnert. Einen wesentlichen Unterschied zu reformpädagogischen Schulen, wo Kinder alles bestimmen, gibt es jedoch: In Neuseeland bestimmen die Lehrerinnen und Lehrer. Sie leiten das Unterrichtsgeschehen und lassen sich die Kontrolle keinesfalls aus der Hand nehmen. Im Gegenteil: Das Lehrerteam formuliert klare Erwartungen an die Schüler.
Seit der Bildungsreform wird in Neuseeland jede Schule von einem Kuratorium gemanagt, dass aus Schuldirektor, Elternvertretern und Lehrern besteht. Direktoren und Eltern lernen zusammen in Kursen, wie eine Schule verwaltet wird. Eltern haben ein Mitspracherecht, wenn neue Lehrer eingestellt werden und unterstützen die Lehrer ganz selbstverständlich im Unterricht. Dass siebzig Prozent des Geldes, das für Bildung ausgegeben wird, direkt an den Schulen verwaltet wird, findet die Autorin großartig und nachahmenswert. Vor Ort wird entschieden: Werden Ergotherapeuten für unruhige Kinder engagiert, wird ein Rasenmäher gekauft oder werden „Mut-mach-Beauftragte“ für stille Kinder angestellt. Vor zwei Jahren untersuchte eine Studie in verschiedenen Ländern, welche Schulsysteme die Kinder besonders gut auf das 21. Jahrhundert vorbereiten. Neuseeland hat für die Autorin zu Recht den ersten Platz belegt.
Lehrerteams sorgen mit viel Phantasie dafür, dass jedes Kind ein Buch findet, das gut zu ihm passt. Am Ende des Schuljahrs gibt es eine Buchparade, bei der sich alle Kinder so verkleiden wie ihre Lieblingscharaktere. „So werden Emotionen geweckt im Unterricht, die Kinder lernen auf sehr ganzheitliche Weise, die ihnen auch immer sinnliche Erfahrungen beschert.“
Eine Klasse fuhr zusammen erst Mountainbike und nahm dann die Newtonschen Gesetze durch. Als die Erstklässler den Buchstaben „I“ kennenlernen, hat die Lehrerin eine Kühlbox mit Eis dabei für das Wort „Ice cream“. „Die Kinder haben das Eis gegessen und sollten Wörter nennen, die ihnen in den Sinn kommen, wie köstlich, lecker, alles natürlich auf Englisch.“ Das ist für die Autorin eine sehr sinnliche Erfahrung des Buchstabens I, „dass man gleich feststellt, wie gut so eine Sache mit I schmecken kann“. Und die Abiturienten verbringen 48 Stunden allein im Wald, jeder einzeln mit einer Art Plane als Zelt. Dahinter steckt: Die Schüler müssen lernen, Einsamkeit auszuhalten und schwierige Situationen zu meistern. So werden sie besser aufs Leben vorbereitet. Für die Psychologin das waren schon so sehr besondere Momente.
Dank unzähliger Praxisbeispiele motiviert die Autorin in ihrem gut recherchierten Buch geradezu, neue Wege zu gehen. Nur in einem Punkt hat Verena Friederike Hasel so ihre Zweifel: Ob der Zusammenhalt der Neuseeländer auch in einer individualistischen Gesellschaft wie Deutschland umsetzbar ist. Ganz erstaunlich findet die Journalistin, dass die Lehrer sagen, kein Kind solle einen Radierer in der Federmappe haben, weil Fehler nichts sind, wofür man sich schämen und wegradieren müsste. „In Neuseeland hängt in jedem Klassenzimmer der Spruch: Fehler zeigen, dass dein Gehirn wächst. Das ist ein wahnsinnig fehlerfreundliches Land.“ Für Hasel zeigte sich das auch darin, dass sie im Unterricht bei allem zugucken konnte. „Selbst als die Lehrer Fehler machten, wurde ich nicht rausgeschickt.“
„Der tanzende Direktor ist – nicht nur für Eltern und Lehrer – ein gelungenes Mut-mach-Buch. Die Freude der Autorin über das Lernen „in der besten Schule der Welt“, wie es im Untertitel heißt, zieht sich wie ein roter Faden durch jedes Kapitel. Die älteste Tochter bewarb sich nach der Rückkehr an ihrer alten Schule in Berlin als Klassensprecherin und schrieb: „Wäre es nicht schön, wenn wir einen Garten, ein Schullied und einen Klassenvertrag hätten.“ Verena Friederike Hasel ist begeistert. „Die Bewerbung liest sich wie eine Ode an die Schule in Neuseeland.“
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