Suche
Suhrkamp Verlag Berlin 2021, 480 Seiten, 24,- Euro
Seit Erscheinen seines Buches „Gelassenheit“ vor sieben Jahren ist Wilhelm Schmid (68) einer der meistgelesenen Denker. Seine philosophisch geprägten Bücher standen viele Monate in den Bestsellerlisten. Der Vater von vier mittlerweile erwachsenen Kindern hat als Lebenskunstphilosoph eine antike Tradition neu erfunden: Er will nicht nur denkend das Dasein ergründen, sondern zum guten Leben anleiten. Wilhelm Schmid kombiniert alte Themen wie Glück, Liebe und Weisheit mit modernen wie Balance und Selbstfreundschaft. Er lebt als freier Autor in Berlin und lehrte bis zu seiner Emeritierung als Professor an der Universität Erfurt. In seinem Buch „Heimat finden“ denkt Wilhelm Schmid über das „Leben in einer ungewissen Welt“ nach.
Heimat bedeutet für jeden etwas Anderes. Für Wilhelm Schmid muss es nicht nur der Ort sein, an dem man aufgewachsen ist. Wir können viele Heimaten in uns tragen, die uns überall begleiten, so der Autor. Der Ort, an dem das Zuhause ist, bekam in der Pandemie ganz besondere Aufmerksamkeit: Es wurde sich gemütlich gemacht, der Stadtpark erkundet, Urlaub daheim verbracht. Das führte dazu, dass sich ganz neue Heimatgefühle entwickelt haben. Vielen Menschen wurden erst in der Coronakrise ihre Verbundenheit und Verwurzelung bewusst. Und doch ist für Wilhelm Schmid Heimat so viel mehr ist als nur ein Ort, zumal auch daheim gerade vieles vermisst werden kann, was Heimat auch sein kann.
„Wenn ich die vielen Erzählungen, die ich schon gehört habe und natürlich meine eigenen durchforste, dann scheint es mir so zu sein, dass mit Heimat immer Vertrautheit und Geborgenheit gemeint ist“, erläutert Wilhelm Schmid im Skype-Gespräch mit unserer Autorin Maicke Mackerodt. „Das kann ein Ort sein, mit dem ich besonders vertraut bin, da kenne ich jeden Weg, jeden Stein, jede Ecke.“ Heimat kann ganz klassisch als der Ort verstanden werden, an dem „die eigene Geschichte ihren Lauf nimmt“, schreibt der Autor. Sozusagen das Basislager „des Lebens, von dem aus Erkundungen ins Ungewisse möglich sind“, wie Wilhelm Schmid es nennt.
Wilhelm Schmid unterscheidet gern verschiedene Heimaten: Kern- und Wahlheimat, sich daheim fühlen in der Natur zum Beispiel. Heimat kann auf Reisen entstehen, an vertrauten Urlaubsorten. Auch Bücher können geistige Heimat sein. Viele Menschen verbinden mit Heimat die Beziehungen zu ihren Verwandten, der Familie, dem Freundeskreis. Heimat ist für den Autor zuallererst die Wohnung als Rückzugsort auch für die Seele. „Mit dem persönlichen Stil des Wohnens entsteht Heimat“. Heimat ist für Wilhelm Schmid aber „auch seelische und geistige Landschaft, erst recht in einer kälter werdenden sozialen Welt“. Niemand kann seiner Meinung nach in völliger Fremdheit leben, jeder braucht letztendlich sogar mehrere Heimaten, um nicht vor dem Nichts zu stehen, wenn eine von vielen Heimaten wegbricht.
Der Lebenskunstphilosoph plädiert in seinem Buch dafür, „immer darauf zu achten, mehrere Heimaten zu haben, damit ich, wenn ich eine verlassen muss, nicht ins Nichts falle“. Heimat bedeutet für Wilhelm Schmid, einen Ort zu haben, an dem man bleiben oder zu dem man gehen kann, wo man sich beheimatet fühle. „Schlimm ist nur, wenn Menschen ihre Heimat mit einer einzigen Sache oder einem einzigen Ort definieren. Die können ins Nichts fallen, wenn sie den Ort, die Sache oder den Gedanken verlassen müssen.“
Für Wilhelm Schmid sind wir dort zu Hause, wo unsere Freunde sind, wo unsere Familie ist, sodass wir uns wechselseitig beistehen können. Das sei vielen Menschen schlagartig in der Pandemie klargeworden: dass Heimat immer auch Schutz bedeuten kann. Für den Lebenskunstphilosophen entsteht das Gefühl von „Heimatlosigkeit durch die Erschütterung, dass etwas nicht mehr so ist, wie es vertraut war – nicht nur in Bezug auf das Leben an einem Ort, sondern auch auf das Lebensverständnis, die Weltsicht und die Verbundenheit mit anderen“.
Für den Autor ist Heimat das Bedürfnis nach einer verlässlichen, eingespielten Wirklichkeit, auf die gebaut und vertraut werden kann. Der Untertitel des Buches heißt für ihn aus guten Gründen „Vom Leben in einer ungewissen Welt“. Gerade die Corona-Krise habe sich enorm auf das Heimatgefühl ausgewirkt: „Wir haben eine Ungewissheit kennengelernt, die wir so lange nicht mehr gekannt haben“, so Wilhelm Schmid. Die Welt sei auch ohne Covod-19 ungewiss. „Aber Corona hat uns das drastisch vor Augen geführt. Was zählt, wenn alles ungewiss ist, sind Freunde und vertraute Menschen, mit denen man das gemeinsam durchstehen kann. Oder eine Wohnung, in die man sich zurückziehen kann. Corona hat uns das Bedürfnis nach Heimat drastisch vor Augen geführt. Warum nicht sich dazu bekennen?“, fragt der Philosoph.
Wilhelm Schmid beschreibt Heimat als eine Art Mosaik, das für jeden anders ist. Ein wesentlicher Heimat-Mosaikstein sei die Natur, sowie alles Nichttechnische und Ursprüngliche. Darüber hinaus gebe es noch die Beziehungsheimat, bestenfalls nicht nur zu anderen Menschen, sondern auch zu sich selbst. „Geistige Heimat wiederum ist auch an keinen Ort gebunden“, schreibt der Autor. Er habe in Gesprächen immer wieder die Erfahrung gemacht, Heimat wird erst in Erzählungen richtig fassbar, richtig greifbar. „Was allen Heimaten eigen ist, ist die Bedeutung, die ein Mensch allem und jedem geben kann.“ Diese Art von innerer Heimat hilft bei äußerer Heimatlosigkeit. Es sei leichter, sich von einem Ort als von einem Gedanken zu entfernen.
Aufgewachsen ist der Lebenskunst-Philosoph als Sohn eines Landwirtes im schwäbischen Krumbach, mittlerweile lebt er seit vielen Jahren in seiner Wahlheimat Berlin. Das ist auch ein Grund, weshalb er den Heimatbegriff gern etwas weiterfasst als manch anderer. Für Wilhelm Schmid gibt es keine Heimatlosigkeit, sondern nur eine partielle Heimatlosigkeit. „In meinem Fall habe ich meine Herkunftsheimat freiwillig verlassen. Bin ich deswegen heimatlos? Ich habe meine Wahlheimat Berlin, habe geliebte Menschen, bei denen ich beheimatet bin, also bin ich nicht heimatlos“, sagt der Autor.
Heimatlos würde der Lebenskunstphilosoph, wenn er in ein völliges anderes Land hätte ziehen müssen, „beispielsweise aus politischen Gründen und ich nicht mehr zurück kann, dann habe ich Heimatlosigkeit in Bezug auf diese Heimat. Aber möglicherweise habe ich die liebsten Menschen mitnehmen können. „Menschen sagen oft: Ich bin in Büchern beheimatet, die sind ja überhaupt nicht an einen Ort gebunden. Die kann man auch unterwegs im Zug lesen. Also die Heimat ist sehr vielfältig und dieses Mosaik, das typisch ist für einen bestimmten Menschen, das ist interessant.“
Natürlich ist dem Autor bewusst, dass mit dem Heimatbegriff etwas sehr Ambivalentes verbunden wird. Heimat klingt eher altmodisch und wird immer wieder politisch benutzt, um die zu bewahrende Heimat vor angeblicher Überflutung oder Überfremdung von Asylsuchenden zu schützen. Beim Nachdenken über Heimat merkte Wilhelm Schmid aber, dass seiner Meinung nach so eine vereinfachte ideologische Kombination der Heimat mit der Identität als Deutscher aufgelöst werden muss. Für den Philosophen heißt die Lösung, weg von der Identität, hin zu etwas, das ihm neben der Heimat beinah noch viel wichtiger ist: nämlich die Integrität.
„Wir integrieren andere Menschen, wir integrieren Veränderung und auf die Weise können wir uns bewahren. Heimat und Zuhause ist dort, wo wir daheim sind. Und wir können eben auch bei Menschen daheim sein. Wir können aber übrigens auch in Gedanken daheim sein und Heimat und Zuhause haben, insofern uns diese Gedanken vertraut sind und wir uns in diesen Gedankenwelten geborgen fühlen.“
Herzstück des Buches ist sein Nachdenken über die Frage nach der Unendlichkeit, gemeint ist ein „Heimweh über alle Horizonte“ hinaus. Wilhelm Schmid, lebt seit vielen Jahren in Berlin und hat dort letztendlich nach so etwas Altmodischem wie seiner Seelenheimat gefunden. Dazu gehören für ihn auch Heimatgeschmäcker, wie die Flädlesuppe, die ihn sofort an seine Herkunftsheimat erinnert. „Das ist die Heimat, die wir fühlen. Die fühlen wir auch, wenn uns unsere Arbeit lieb und teuer ist. Oder bei unseren Kindern oder die Liebespartner beieinander. Das ist für Wilhelm Schmid vielleicht überhaupt die schönste Seelenheimat, die es geben kann.
„Heimat finden“ ist ein sehr persönliches Buch, das mitunter etwas betulich daherkommt. Trotzdem kann es hilfreich sein, gegen verwirrende Gefühle wie Fernweh oder wenn man sich heimatlos fühlt. Vorausgesetzt man lässt sich auf die Vielfalt an Heimaten ein, bei der selbst das Handy zu einer Art „Trageheimat“ für digitale Nomaden wird, die überall auf der Welt, vor allem im Internet daheim sind. „Brauche ich Heimat?“, „Wo sind meine Heimaten?“, „Was kann ich dafür tun, mich zu beheimaten?“, diese Fragen regen zum geistigen Umherschlendern an.
Weiterführende Links
www.sueddeutsche.de/kultur/wilhelm-schmid-heimat-philosophie-1.5277276
https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/neugier-genuegt/redezeit-Wilhelm-Schmid-100.html
(alle abgerufen am 03.08.2021)
Management
Compliance-Systeme: Vor Schaden bewahren
Pflege
Schwere Versorgungsdefizite bei Heimbewohner*innen
Pflege
Einsamer Dienst an der Corona-Front: Was Altenpflegekräfte in neun europäischen Ländern erlebten
Soziales
10 Jahre Bundesfreiwilligendienst: Viele Angebote, über sich hinauszuwachsen
Bildung
In der Pandemie entwickelt, zur Nachahmung empfohlen
Gesundheit
Kindermarketing: Dicke Geschäfte, kranke Kinder
Buchempfehlung
Wilhelm Schmid: Heimat finden. Vom Leben in einer ungewissen Welt
Susanne Bauer
Senior Referentin Unternehmenskommunikation
Konrad-Adenauer-Ufer 85
50668 Köln
T 0221 97356-237
F 0221 97356-477
E-Mail