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Gegen die Corona-Pandemie kämpfen die Länder weltweit mit teils sehr unterschiedlichen Folgen und Konzepten. Was sie eint: Überall waren Pflegekräfte dem Virus stärker ausgesetzt als andere Berufsgruppen. Eine Länderstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung macht die Bündelung von prekären Arbeitsbedingungen, Personalnot und Unterfinanzierung als länderübergreifenden Missstand deutlich und sagt, welche Lehren aus den katastrophalen Missständen zu ziehen sind.
Die Untersuchung arbeitet die pandemiebedingten Erfahrungen der Pflegekräfte in Heimen und häuslicher Altenpflege in neun europäischen Ländern heraus: in Dänemark, England, Finnland, Deutschland, Norwegen, Portugal, Schottland, Spanien und Schweden. Die Ergebnisse basieren auf der Zusammenarbeit der SPD-nahen Ebert-Stiftung mit der Gewerkschaft für Kommunalangestellte (Kommunal) und der Denkfabrik „Arena Idé“ aus Schweden.
In Deutschland war die Zahl der Covid-19-Fälle unter Altenpflegekräften in der häuslichen Pflege doppelt so hoch wie im Durchschnitt der Bevölkerung, in Altenpflegeheimen sechs Mal höher, so beschreibt es Studienautorin Lisa Pelling . In Spanien entfiel fast ein Viertel (24,1 Prozent) aller bestätigten Covid-19-Fälle auf Beschäftigte in Gesundheitswesen oder Pflege, es starben mindestens 63 Altenpflegekräfte (Mai 2020).
Die Altenpflege sei in allen Ländern „ein sich selbst überlassener Sektor“, bemängelt die Studie. Obwohl fast die Hälfte der Todesfälle in Zusammenhang mit Covid-19 im Altenpflegesektor auftrat, versagten die meisten Länder weitgehend darin, die besonders gefährdeten älteren Menschen zu schützen. So standen Besuchsverbote in Altenheimen an der Spitze der Maßnahmen, doch zum Beispiel in Schweden wurden keinerlei Schutzvorkehrungen für die Hauspflegedienste mit ihren zahlreichen Pflegekontakten getroffen. Auch das European Centre For Disease Prevention and Control (ECDC) hatte Langzeitpflegeeinrichtungen als Corona-Hotspot identifiziert, es aber an Empfehlungen vermissen lassen, wie die Ausbreitung des Virus verhindert werden kann. Im Pflegealltag vor Ort gebe es zwar viel Wissen, es werde aber nicht in nationale Entscheidungsprozesse einbezogen, kritisiert Wissenschaftlerin Pelling. Altenpfleger*innen müssten aufgrund ihrer großen Erfahrungen ein Mitspracherecht bei der Entwicklung von Sicherheitsrichtlinien haben und die Arbeitsplätze einer regelmäßigen Gesundheitsinspektion unterliegen.
Einige Aspekte aus dem Pflegealltag belegen das Fiasko. In einer Umfrage von Amnesty International meldeten fast alle beteiligten 63 Länder einen Mangel an persönlicher Schutzausrüstung für Pflegekräfte (Juli 2020). Beschäftigte in Finnland mussten manchmal Regenmäntel und Gesichtsmasken aus Papiertaschentüchern tragen. In Schweden ergriffen Altenpflegekräfte rechtliche Schritte, um eine Gesichtsmaske tragen zu können, wenn sie Heimbewohner*innen mit bestätigter oder vermuteter Covid-19-Erkrankung pflegten. In England mussten Altenpflegekräfte mitunter Hunderte von Meilen fahren, um sich testen zu lassen. Viele Beschäftigte litten unter psychischem Druck, Angstzuständen und Depressionen, der Alkoholkonsum nahm zu.
Überstunden, Urlaubsstopp, dicht gestaffelte Schichten – wegen personeller Unterbesetzung fühlten sich in allen untersuchten Ländern Altenpfleger*innen gedrängt, auch mit Erkrankungssymptomen zur Arbeit zu gehen. Alleine schon, um die Gefährdung durch Ansteckung zu verringern, fordert Autorin Pelling eine Personalaufstockung. Auch die Prekarisierung der Pflegekräfte dürfe nicht länger hingenommen werden – sichere Arbeitsverträge seien auch eine Frage des Infektionsschutzes: „Damit verhindert werden kann, dass sich die Krankheitsausbrüche ausbreiten, ist es sehr wichtig, dass Altenpflegekräfte vermehrt unbefristete Verträge bekommen und in einer einzigen Einrichtung in Vollzeit beschäftigt sind“, heißt es.
In dieselbe Richtung zielt die Forderung nach angemessenem Krankengeld. Die Pflicht von Beschäftigten, zuhause zu bleiben, wenn sie sich krank fühlten, sei eine zentrale Strategie im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus gewesen. Dennoch hätten Altenpflegekräfte überall in Europa für ihr Recht auf Krankengeld kämpfen müssen, kritisiert die Autorin. Auch in Deutschland hätten Gewerkschaften auf die Situation geringfügig beschäftigter Altenpflegekräfte hingewiesen, die trotz erhöhten Infektionsrisikos durch ihren Job nur für die ersten sechs Wochen ihrer Erkrankung eine Lohnfortzahlung erhielten.
Die Studie erwähnt Hinweise, wonach Länder mit den niedrigsten Sterberaten die großzügigsten Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall leisteten. Norwegen ist dafür ein Beispiel: Bis Februar 2021 waren bei einer Bevölkerungszahl von 5 Millionen weniger als 600 Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 gemeldet worden. In dem nordischen Land erhalten Beschäftigte im ersten Krankheitsjahr 100 Prozent Krankengeld. Im Vergleich dazu erhalten schwedische Beschäftigte ab dem zweiten Tag weniger als 70 Prozent ihres Lohnes.
Dass die europäischen Gesellschaften nicht auf die Bewältigung einer Pandemie vorbereitet waren, lag laut Studie u. a. daran, dass zivile Notreserven an medizinischer Ausrüstung aus der Zeit des Kalten Krieges abgeschafft und Kapazitäten des Krisenmanagements als veraltet angesehen wurden.
Autorin Pelling sieht es als erwiesen an,dass die Pandemie in allen neun Ländern des Forschungsprojekts die ohnehin bereits schlechten Arbeitsbedingungen weiter verschlechtert hat. „Die Pandemie traf einen unterfinanzierten, unterbesetzten und unterbewerteten Sektor. Jahre der Sparpolitik und des neoliberalen New Public Managements haben das Privatisierungs- und Prekarisierungsniveau erhöht, als zeitgleich der gewerkschaftliche Organisationsgrad zurückging.“
Damit gelang es nicht, gerade die Schwächsten in der Pandemie zu schützen. Zwar hätten die Gewerkschaften in allen neun Ländern für geeignete Schutzausrüstungen, Anspruch auf Krankengeld und den Zugang zu Tests gekämpft, es führe aber kein Weg an einer gründlichen Reform des Altenpflegesektors vorbei.
Lisa Pelling, An der Corona-Front. Die Erfahrungen der Altenpflegekräfte in neun europäischen Ländern. Zusammenfassender Bericht, Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Stockholm, 2021, 28 Seiten
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