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Immer häufiger kommt es vor, dass Menschen die Telefonnummer 112 wählen, obwohl kein medizinischer Notfall vorliegt. Vermehrt handelt es sich dabei um ältere Personen mit sozialem Unterstützungsbedarf, die allein leben und manchmal isoliert oder sogar verwahrlost sind. Dies führt nicht nur zu unnötigen Klinikeinweisungen, sondern trägt zu einer Überlastung der Rettungskräfte bei. Dass es anders geht, zeigt eine Kooperation zwischen Rettungsdienst und städtischer Altenarbeit in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden.
Das Vorhaben startete 2018 als Pilotprojekt („Schnittstellenmanagement bei Krankenhausaufnahme und -Entlassung“) mit Fördermitteln des hessischen Ministeriums für Soziales und Integration. Die Aufgabe der Projektleitung übernahm Johannes Weber, Kurator und Aufsichtsratsmitglied des KDA Kuratorium Deutsche Altershilfe. Von 2000 bis 2020 war er Abteilungsleiter der Altenarbeit im Wiesbadener Amt für Soziale Arbeit.
Mit dem Projekt verfolgte man zwei Ziele: zum einen galt, eine Fehlsteuerung ins Krankenhaus zu verhindern, zum anderen sollte die häusliche Versorgungslage der Betroffenen gesichert werden.
Daher überprüfte das Rettungspersonal neben dem gesundheitlichen Status auch eine mögliche soziale Indikation. Zu diesem Zweck verwendeten sie einen standardisierten Meldebogen mit den entsprechenden Kategorien. Stellten die Rettungskräfte einen sozialen Unterstützungsbedarf fest, schickten sie den Meldebogen an die kommunalen Beratungsstellen für selbstständiges Leben im Alter. Deren Angebot richtet sich an Menschen ab 60 Jahren und deren Angehörige, um eine selbstständige Lebensführung durch Beratung bzw. - bei Bedarf – durch die Organisation unterschiedlicher Hilfen zu stärken und zu erhalten. Finanziert werden die Beratungsstellen von der Stadt Wiesbaden. Sie arbeiten trägerübergreifend und sind für die Ratsuchenden kostenfrei.
Die Wirksamkeit dieser Zusammenarbeit hat Dr. Petra Schönemann-Gieck vom Institut für Gerontologie Universität Heidelberg wissenschaftlich überprüft. Für ihre Studie „Kooperation zwischen Rettungsdienst und kommunaler Altenhilfe: ein Weg zur Entlastung der Notfallversorgung?“ wertete sie während der vierjährigen Projektlaufzeit 494 Meldungen der Rettungskräfte aus und verglich diese mit den Rückmeldungen der Sozialarbeiter*innen. Außerdem wurden die Rettungskräfte befragt, wie sie das Verfahren und die Praktikabilität des Meldeinstruments einschätzen. Im Februar 2023 lag das Ergebnis vor.
Zunächst informiert die Studie darüber, dass inzwischen rund 60 Prozent der Leistungsfälle bei Rettungsdiensteinsätzen auf Ältere und deren Angehörige zurückgehen, was den ohnehin gestiegenen Druck in der Notfallversorgung erhöhe.
Rettungskräfte seien zunehmend mit multimorbiden Personen konfrontiert, bei denen - neben medizinischen Problemen – zusätzlich Pflege-, Unterstützungs- und Betreuungsbedarfe vorliegen. „Diese werden von den Rettungskräften wahrgenommen, liegen aber nicht in deren Aufgabenbereich“, schreiben Schönemann-Gieck und ihre drei Mitautor*innen. Aufgrund fehlender Alternativen komme es immer öfter vor, dass die Mitarbeitenden des Rettungsdienstes ältere Patient*innen in solchen Situationen in eine Klinik überweisen, obwohl sie ambulant behandelt werden könnten. Diese nicht notwendigen Einweisungen belasteten nicht nur das Krankenhauspersonal, sondern seien „auch für die ältere Menschen selbst aufgrund der besonders hohen Vulnerabilität ein immenses gesundheitliches Risiko.“
Wie die Studie bestätigt hat, war in etwa der Hälfte der Fälle eine Einweisung ins Krankenhaus nicht notwendig, d.h. die Patient*innen konnten zu Haus versorgt werden. Gleichzeitig zeigte sich ein kontinuierlicher Anstieg von Fällen mit einer sozialen Indikation. „Während im ersten Jahr nach Einführung des Verfahrens monatlich etwa sechs Notfälle mit sozialen Bedarfen gemeldet wurden, waren es Mitte 2022 9,5 Fälle pro Monat.“
Die von den Rettungskräften gemeldeten Fälle wurden der Studie zufolge in 98 Prozent bestätigt.
Die Evaluation konnte nachweisen, dass es möglich ist, Klinikeinweisungen zumindest teilweise zu vermeiden, wenn man soziale Probleme frühzeitig entdeckt und diesen entgegenwirkt. Schönemann-Gieck stellt daher fest: „Das Kooperationsverfahren ist ein vielversprechender Ansatz zur Entlastung des Rettungsdiensts und der Krankenhäuser.“ Die zumeist älteren Notruf-Patientinnen und -Patienten mit sozialem Betreuungsbedarf seien über die Beratungsstellen gut versorgt worden.
92 Prozent der Rettungskräfte bewerteten das Konzept „als eine sinnvolle Ergänzung für die eigene Arbeit“.
Das Interesse an diesem Konzept sei groß und komme auch aus anderen Gebietskörperschaften. „Ein Transfer dieses Verfahrens kann jedoch nur gelingen, wenn Übernahmestrukturen im ambulanten Bereich – wie die Wiesbadener Beratungsstellen für selbstständiges Leben im Alter – vor Ort verfügbar sind“, lautet ein zentrales Fazit der Studie.
„Aufgrund der guten Resonanz und der positiven Effekte wird die Kooperation in Wiesbaden über die Projektlaufzeit hinaus fortgeführt“, berichtet Johannes Weber.
Petra Schönemann-Gieck/Norbert Hagner/Iris Groß/Ulrike von Schilling: Kooperation zwischen Rettungsdienst und kommunaler Altenhilfe: ein Weg zur Entlastung der Notfallversorgung? Erfahrungen und Befunde nach vier Jahren Laufzeit, Notfall + Rettungsmedizin, 23. Februar 2023.https://link.springer.com/article/10.1007/s10049-023-01135-y#Abs1
https://kda.de/kooperation-zwischen-rettungsdiensten-und-altenhilfe/
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