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Die Demokratie gerät weltweit unter Druck, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und freie Wahlen sind in der Defensive, stellt der aktuelle Bertelsmann-Transformationsindex (BTI) fest. Besonders alarmierend: Auch einst stabile Demokratien stehen im autoritären Sog. In einer eigens dazu erstellten Expertise (Policy Brief) untersucht das Forscherteam die Entwicklungen im Zeichen der Corona-Pandemie: Kurzes Fazit: „Die Stabilität der politischen Institutionen und die Regierungsfähigkeit der von der Pandemie erfassten Staaten werden einem beispiellosen Stresstest unterzogen.“
Der Index macht Erfolge und Rückschritte auf dem Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft in 137 Entwicklungs- und Schwellenländern deutlich. Dazu analysiert er seit 2004 alle zwei Jahre demokratische Strukturmerkmale wie Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung. Laut aktueller Analyse liegt der Anteil der Demokratien in den untersuchten Ländern bei 54 Prozent – ein leichter Rückgang von drei Prozentpunkten gegenüber 2010 und ein Tiefststand der Qualitätsbewertungen seit Erhebungsbeginn.
Die Erosion der Rechtsstaatlichkeit hat längst auch einst stabile Demokratien erreicht. Als Beispiele nennen die Wissenschaftler*innen den Hindu-Nationalismus in Indien und den Rechtspopulismus in Brasilien. Das Legitimitätspolster ist in vielen Ländern dünn geworden, die steigende Frustration vieler Bürger*innen drückt sich in sinkenden Zustimmungswerten zur Demokratie aus. „Unter den 57 Ländern, die sowohl der BTI 2010 als auch der BTI 2020 als Demokratien einordnet, ist die Zustimmung in 34 Staaten gesunken – und nur in zwei (Mauritius und Senegal) gestiegen.“ Sogar ehemalige demokratische Vorreiter in Europa, Polen und Ungarn, gehörten heute zu den Problemfällen, heißt es. Das treffe auch für Türkei zu. Die Autoren stufen das Land aufgrund massiver Einschränkung der Pressefreiheit, grober Missachtung von Bürgerrechten und Aushebelung der Gewaltenteilung erstmals als Autokratie ein. Serbien, die Philippinen, Sambia und Tansania sind gemäß BTI ebenfalls auf dem Weg in autoritäre Verhältnisse.
Als Ursachen für den weltweiten Demokratieabbau nennen die Autoren Korruption, Klientelismus und Machtkonzentration. „Eine kleine Elite betreibt diese auf Kosten des Großteils der Bevölkerung und untergräbt das Vertrauen in Demokratie und Marktwirtschaft.“ Zunehmende Verteilungskämpfe verstärkten das politische Misstrauen und tragen zu Polarisierung und Spaltung der Gesellschaften bei. „COVID-19 wird in den meisten der vom BTI 2020 untersuchten 137 Entwicklungs- und Transformationsländern gerade die Schwachstellen verstärken, die die Negativbilanz des letzten Jahrzehnts geprägt haben: mangelnde Rechtsstaatlichkeit, eingeschränkte politische Rechte, fiskalpolitische Instabilität und steigende soziale Ungleichheit“, heißt es im begleitenden Policy Brief. Die Schwächsten in der Gesellschaft treffe die Krise besonders schwer, fördere extreme Armut und sozialen Protest.
Das gängige Argument autokratischer Regimes, eine exekutive Machtkonzentration verbessere deren Regierungsführung, lassen die Autor*innen nicht gelten. Diese Entwicklung führe vielmehr zu mangelnder Lernfähigkeit und Innovation des Systems. Als Beispiel vor der Haustür Europas führen sie wiederum das türkische Beispiel an, wo eine zunehmend autoritäre Verhärtung des Regierungshandelns mit einer nur schleppenden Überwindung der Wirtschaftskrise 2018 einhergehe. Zahlreiche Länder des Globalen Südens mit stark gesunkener Demokratiequalität gäben ein ähnliches Bild ab.
Die anfängliche chinesische Reaktion auf die Corona-Krise zeigt gefährliche Folgen mangelnder Transparenz, wie sie für Autokratien typisch sind, kann aber auf wichtige Erfolge bei der Eindämmung der Infektionskrankheit verweisen. Asiatische Demokratien wie Südkorea und Taiwan hingegen schafften – auch unter Berücksichtigung von Erfahrungen aus der SARS-Epidemie 2003 – ähnlich gute Eindämmungserfolge, „allerdings unter weitgehender Einhaltung rechtsstaatlicher Standards sowie mit einem funktionierenden und transparenten Frühwarnsystem“.
Viele der untersuchten Länder seinen massiv überschuldet, es drohten im Zuge der Corona-Pandemie eine Welle von Staatspleiten. „Tragisch ist an dieser fiskalpolitisch so prekären Situation, dass damit vielerorts die Ressourcen fehlen, um dem umfassenden gesellschaftlichen Schock auch nur annähernd angemessen zu begegnen.“
Das alles klingt beunruhigend, die aktuelle Krise könne aber auch in positivere Szenarien münden, räumt der Autor ein. „So zeichnet sich bereits jetzt eine Entzauberung autoritär-populistischer Regierungen ab, deren konfrontative und spaltende Politik sich beispielsweise in Brasilien, Indonesien oder auf den Philippinen negativ auf ein effektives Krisenmanagement ausgewirkt hat.“ Gegenüber der von der Bevölkerung wahrgenommenen Bedrohung durch die Pandemie verblassten Strategien der Ausgrenzung und Feindbildprojektion. Die Wissenschaft, im antielitären Diskurs der Populisten diskreditiert, habe sich im Zeichen der Pandemiebekämpfung neues Ansehen erworben. Und schließlich falle die Personalisierung politischer Macht auf die autoritären Amtsinhaber zurück, da sie direkt für Misserfolge bei der Krisenbekämpfung verantwortlich gemacht würden.
Alles in allem sei durchaus auch denkbar, so Autor Hauke Hartmann vage, dass die Krise zu einer innergesellschaftlichen Solidarisierung führe und die Kräfte der zivilgesellschaftlichen Selbsthilfe und Kooperation gegen die gesundheitlichen und sozialen Folgen der Pandemie stärke.
BTI 2020 Ergebnisüberblick. Machtmissbrauch und Vetternwirtschaft untergraben Demokratie und Marktwirtschaft, Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung, 9 Seiten, Download
Der Transformationsindex, BTI 2020, Bertelsmann Stiftung
www.bti-project.org
Hauke Hartmann, Hohe Krisenanfälligkeit. Die Ergebnisse des BTI 2020 im Zeichen der Corona-Pandemie, Policy Brief 2020/01, Governance in international perspective, Bertelsmann Stiftung, 11 Seiten, Download
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