Suche
Im Wilden Westen schießen sich Helden den Weg frei, im Weltraum entern sie ferne Galaxien. Nur in der Corona-Krise sind sie irgendwie anders, aber auf jeden Fall super: die viel gelobten „Heldinnen und Helden des Alltags“. Sie betten alte Menschen um, füllen leergekaufte Lebensmittelregale auf oder hetzen im Paketwagen von Haustür zu Haustür. „Sie halten das System am Laufen“, müssen sich aber mit unterdurchschnittlichem Verdienst und Ansehen begnügen. Eine Studie des Deutschen Instituts der Wirtschaft (DIW) wirft die Frage nach einer grundlegenden Neubewertung der Löhne hierzulande auf.
„Die Erkenntnis, dass unsere Gesellschaft auf das Ausüben bestimmter Beruf mehr angewiesen ist als auf andere, scheint vor allem in Krisenzeiten besonders präsent“, wird die DIW-Untersuchung gleich zu Beginn deutlich. Zu den systemrelevanten Berufsfeldern zählen das Gesundheitswesen, die Grund- und Lebensmittelversorgung, die Kindernotbetreuung und die Verkehrs- und IT-Infrastruktur. Selbst wenn ganze Branchen am Abgrund stehen, dürfen diese Bereiche nicht stillstehen – dort sind Menschen mit Einsatz und Kompetenz unersetzlich. Wahr ist aber auch: „Die Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Unverzichtbarkeit und tatsächlicher Entlohnung – gemessen am Stundenlohn und beruflichen Prestige – ist in Krisenzeiten besonders offensichtlich.“
Schon beim gesellschaftlichen Prestige wird die Schieflage sichtbar: Besonders gering außerhalb von Krisenzeiten ist das Ansehen von Reinigungskräften, von Berufen im Bereich Post, Zustellung und Transport. Der Grund erklärt sich laut Studie so: Es sind allesamt für selbstverständlich gehaltene Serviceleistungen ohne höhere Bildungsvoraussetzungen. Selbst unter den systemrelevanten Berufen herrscht große Diskrepanz: So genießen Arzt- und Praxishilfen deutlich weniger soziale Wertschätzung als Human- und Zahnmediziner*innen.
Mit dem weitgehend geringen Ansehen geht schlechte Bezahlung einher. Das trifft laut DIW gerade für systemrelevante Berufsgruppen zu – viele von ihnen sind nicht durch Tarifverträge abgesichert.
Der durchschnittliche Bruttostundenlohn liegt in den unverzichtbaren Berufsgruppen bei 17,50 Euro, in anderen Berufsgruppen bei über 20 Euro pro Stunde. Hier ist zweierlei zu berücksichtigen: Erstens verdienen 90 Prozent der Beschäftigten in systemrelevanten Berufen unterdurchschnittlich. Bei Altenpflegern sind das deutlich unter 15 Euro, bei Beschäftigten im Einzelhandel häufig nur knapp mehr als 9,35 Euro Mindestlohn. Das DIW erwähnt unter anderem auch Postzusteller, Sozialarbeiter und Heilerziehungspfleger als Beispiele für die Kluft zwischen Relevanz und Einkommen. Außerdem stecken in den genannten 17,50 Euro Durchschnittseinkommen auch die Gehälter der ebenfalls systemrelevanten Ärzt*innen mit mehr als 40 Euro pro Stunde.
Frauen tragen die Hauptlast der Krisenbewältigung stellt die DIW-Studie fest. Ihr Anteil in den systemrelevanten Berufen liegt bei knapp 60 Prozent. Dort beträgt die Verdienstlücke zwischen Frauen und Männern (Gender Pay Gap) 16 Prozent. Dass die Verdienstlücke zwischen Frauen und Männern hier niedriger als im Durchschnitt ist (20 %), liegt z.T. daran, dass das Lohnniveau in diesen Berufsgruppen insgesamt gering ist. In den Pharmazieberufen verdienen Männer 40 Prozent mehr als Frauen.
DIW-Präsident Marcel Fratzscher erinnert in einem Meinungsbeitrag für Zeit-Online an die Diskussion der vergangenen Jahre um Steuersenkungen. „Viele haben gefordert, man müsse endlich die Leistungsträgerinnen und Leistungsträger unserer Gesellschaft entlasten. Gemeint waren dabei meist die Besserverdienenden.“ Jetzt komme darauf an, jenen Menschen Wertschätzung zuteil werden zu lassen, „die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, für Gesundheit, Sicherheit und Grundversorgung unverzichtbar sind“.
Klatschen auf Balkonen und Zuspruch von Politker*innen müsse sich nun in echter Aufwertung der Arbeit niederschlagen, etwa in höherer Entlohnung und besserer tarifvertragliche Absicherung, fordern die Studienautorinnen. Ein erster Schritt in die richtige Richtung seien Bonuszahlungen für Pflegekräfte, wie sie von der Politik in Aussicht gestellt wurden. Eine insgesamt langfristige Erhöhung der Attraktivität systemrelevanter Berufe habe überdies den Vorteil, den dort herrschenden Arbeitskräftemangel anzugehen.
Josefine Koebe / Claire Samtleben / Annekatrin Schrenker / Aline Zucco, Systemrelevant und dennoch kaum anerkannt: Das Lohn- und Prestigeniveau unverzichtbarer Berufe in Zeiten von Corona, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Hg.), DIW aktuell, 28/2020, 7 Seiten, Download
Marcel Fratzscher, Wer waren noch mal die Leistungsträger der Gesellschaft?, in: Die Zeit (am 15.5.2020 abgerufen)
Soziales Unternehmertum
startsocial: „Wir geben den Rückenwind, fliegen müssen sie selbst“
Arbeitswelt
Klatschen ist gut, mehr entlohnen noch besser
Demografie
Ganz schön fit im Dritten Alter
Soziales
Was Kommunen gegen Alterseinsamkeit tun können
Soziales
Onlineberatung: Junge Menschen beraten Gleichaltrige
Arbeitswelt
Ostdeutschland: Ohne Zuwanderung weniger Wohlstand
Gesellschaft
Das Virus der autoritären Versuchung: Corona schwächt die Demokratie
Buchempfehlung
Daniel Jung: Let’s rock education – was Schule heute lernen muss
Susanne Bauer
Senior Referentin Unternehmenskommunikation
Konrad-Adenauer-Ufer 85
50668 Köln
T 0221 97356-237
F 0221 97356-477
E-Mail