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Die Bekämpfung von Kinderarmut hierzulande hat es endlich ins Zentrum der politischen Diskussion geschafft. Auch die Bertelsmann-Stiftung greift es jetzt erneut mit einer Befragung von Kindern und Jugendlichen auf. Das Ergebnis lässt es an Eindeutigkeit vermissen, dennoch sehen die Wissenschaftler Handlungsbedarf. Der Nachwuchs ist mit seiner materiellen Situation grundsätzlich zufrieden, äußert aber zugleich Nöte, die einer sorglosen Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und größtmöglicher Bildungsgerechtigkeit entgegenstehen. Unter Berufung auf zahlreiche Armutsstudien fordern die Studienautoren daher ein Teilhabegeld, mit dem besonders arme Kinder und Jugendliche unterstützt werden sollen.
In Deutschland lebten 2017 rund 13,4 Millionen Minderjährige – damit ist ihre Zahl in den vergangenen 20 Jahren um 14 Prozent gesunken. Sie haben genug zu essen (99,3 %) und ausreichend Platz zum Spielen (97 %) und Lernen (92 %). Rund 97 Prozent verfügen nach eigenen Angaben über genug Geld für Klassenfahrten und Ausflüge, ebenso viele haben Internet zu Hause. Gleichzeitig gab jedoch jeder Sechste an, sich oft (10,7 %) oder immer (5,6 %) Sorgen über die finanzielle Situation der eigenen Familie zu machen.
Zu diesem Ergebnis kommt die repräsentative Befragung von 3.450 Schülerinnen und Schülern im Schuljahr 2017/18 durch die Bertelsmann Stiftung und Wissenschaftler der Goethe-Universität Frankfurt. Rund 44 Prozent der beteiligten Kinder wuchsen in einer Familie auf, in der zu Hause Deutsch gesprochen wird, in rund 41 Prozent der Fälle wurden Deutsch und eine andere Sprache gesprochen. Bei den restlichen 15 Prozent wurde hauptsächlich eine andere Sprache als Deutsch gesprochen. Knapp jedes fünfte Kind lebte mit einem alleinerziehenden Elternteil zusammen, ähnlich viele Kinder wuchsen als Einzelkinder auf.
Gefragt wurde nicht nur nach der materiellen Versorgungslage, sondern auch nach Faktoren wie dem individuellen Sicherheitsgefühl in der Schule und nach der verfügbaren Zeit mit Eltern oder Freunden. Sicher in der Schule fühlen sich vor allem Grundschüler (81 %) und Gymnasiasten (82 %). Bei Haupt- und Gesamtschülern ist das Sicherheitsgefühl mit jeweils rund 67 Prozent deutlich niedriger ausgeprägt. Dabei scheinen alle Kinder und Jugendlichen direkt oder indirekt Mobbingerfahrungen gemacht oder beobachtet zu haben – meistens im Zusammenhang mit der Schule. „Hier läge es nahe, mit allen Akteuren in diesen Schulen gemeinsam zu überlegen, wie das Gefühl von Sicherheit für alle erhöht werden kann“, finden die Autoren. Was die Vertrauenspersonen in der Schule angeht, hat ungefähr die Hälfte der älteren Schüler nicht den Eindruck, dass sich ihre Lehrer um sie kümmern oder ihnen bei Problemen helfen.
Eine große Rolle spielt für den Nachwuchs auch die gemeinsame Zeit mit Eltern und Gleichaltrigen. Laut Studie sind knapp 80 Prozent der Zehnjährigen der Ansicht, dass ihre Eltern genug Zeit mit ihnen verbringen, etwa acht Prozent stimmen dem nicht zu. Bei den 14jährigen finden nur noch 69 Prozent, dass die Eltern genug Zeit für sie haben. Geht es um die gemeinsame Zeit mit Freunden, reduziert sich diese mit zunehmendem Alter der Befragten: Unter den Zehnjährigen sind es immerhin knapp 49 Prozent, die hier völlig zufrieden sind, bei den Vierzehnjährigen sind es nur noch 27 Prozent – was vermutlich auch mit den zunehmenden Anforderungen durch die Schule zusammenhängt.
Wer sich mit Armut und sozialer Selbstwahrnehmung von Kindern und Jugendlichen beschäftigt, dem sei neben der aktuellen Bertelsmann-Studie auch der Sozialbericht „Datenreport 2018“ mit dem Schwerpunkt auf den Lebenswelten dieser Altersgruppe empfohlen. Der Report zeichnet ein teilweise anderes Bild. Trotz der guten Wirtschaftslage sind demnach 15 Prozent aller Menschen unter 18 Jahren armutsgefährdet. Als armutsgefährdet hierzulande gilt, wer ein Nettoäquivalenzeinkommen von weniger als 1.064 Euro im Monat zur Verfügung hat.
Auch bei den „subjektiv wahrgenommenen Belastungen durch die Schule“ kommt der Datenreport zu einem anderen Ergebnis als die Bertelsmann-Befragung. Mit nur geringen Unterschieden zwischen den einzelnen Schulformen stimmten hier mehr als 90 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler den beiden Aussagen zu, dass sie sich mit ihren Mitschülern gut verstünden und die Lehrkräfte sie ernst nähmen. Viele Kinder und Jugendliche fühlen sich aber nach der Schule erschöpft – vor allem Gymnasiasten und Hauptschüler. Letztere gaben außerdem an, dass es in ihrer Schule nur wenige Dinge gebe, die ihnen wirklich Spaß machten, und dass sie die Anforderungen der Schule als große Belastung empfänden.
Auch wenn Bertelsmann-Befragung und Datenreport zu unterschiedlichen Befunden kommen, so ist der Untersuchung aus Gütersloh zuzustimmen, dass gutes Aufwachsen mehr bedeutet als materielle Grundversorgung (Wohnen, Essen, Internet). Vielmehr gehören auch persönliche Sicherheit, Zeit mit Eltern und Freunden, Zuwendung sowie kulturelle und soziale Teilhabe dazu. Die Wissenschaftler appellieren an die Politik, Heranwachsende regelmäßig zu befragen und konsequent zu beteiligen: „Wir brauchen eine solide Grundlage, um die Höhe des Teilhabegeldes zur Bekämpfung von Kinderarmut festlegen zu können. Mit einer konsequenten Befragung von Kindern und Jugendlichen ließe sich die Unterstützung und Infrastruktur bedarfsgerecht ausrichten.“
So richtig es ist, einen stärkeren Fokus auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zu legen – die vorliegende Bertelsmann-Studie deckt bislang nur einen Teil der Fragen ab. Die finanzielle Lage, das Sicherheitsgefühl, Zeit und Zuwendung sind wichtige Faktoren, für ein umfassendes Bild sollten aber auch Bereiche wie Freizeit-, Sport-, Ernährungsverhalten und allgemein das Thema Gesundheit ergänzend abgefragt werden.
Weitere Info
Sabine Andresen / Johanna Wilmes / Renate Möller, Studie zu Bedarfen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, Bertelsmann-Stiftung, Februar 2019, 68 Seiten, Download
Siehe auch das Projektthema der Bertelsmann-Stiftung: Neue Existenzsicherung für Kinder und Jugendliche
Datenreport 2018, Herausgeber: Bundeszentrale für politische Bildung, Statistisches Bundesamt, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Sozio-oekonomisches Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Download
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