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Ein Patient, der sein Recht der freien Arztwahl wahrnimmt und kommentarlos nicht mehr wiederkommt – für einen Arzt aus Syrien kaum nachvollziehbar. Der Pflegeschüler iranischer Herkunft, der einer alten Dame bei der Morgentoilette hilft: für beide ein Schock. Zwei Beispiele für alltägliche Konfliktsituationen mit Migranten, die im hiesigen Gesundheitssystem Fuß fassen wollen. Für das Modellprojekt „National Matching Brandenburg“ ein Grund, für diesen Personenkreis ein berufliches Integrationsprogramm anzubieten, das den Fachkräfte-Engpass bekämpfen soll.
Gerade erhielt das 2016 gestartete Projekt grünes Licht vom Landesarbeits- und Gesundheitsministerium (MASGF) für die weitere Förderung in Höhe von 310.100 Euro bis 2020. Es wendet sich an Geflüchtete und Zuwanderer, die in ihrem Heimatland bereits in Gesundheitsberufen tätig waren oder jetzt in Brandenburg eine entsprechende Berufswahl treffen. 146 Bewerber aus 29 Ländern, davon ein Drittel Frauen, traten bis Ende 2018 in das Projekt ein. 40 von ihnen wurden bereits in Arbeit oder Ausbildung vermittelt, mehr als die Hälfte sind Ärzte, der Rest entfällt auf andere Gesundheitsberufe.
Der Plan ist, die Teilnehmenden auf ihrem hürdenreichen Weg zur Integration engmaschig zu unterstützen – von der Erstaufnahmeeinrichtung bis in die Ausbildung oder den Job. Zahlreiche relevante Einrichtungen im Bundesland arbeiten zu diesem Zweck zusammen. Projektträger ist das Beratungsunternehmen Adler Management Berlin; Partner und Unterstützer sind u. a. das Arbeits- und Gesundheitsministerium Brandenburg, Ausländerbehörden auf Landes- und Landkreisebene, Jobcenter sowie mehrere Kliniken, Altenpflegeeinrichtungen, Reha-Anbieter, das Ärztenetz Südbrandenburg und die AOK-Pflegeakademie.
Eine klassische Win-Win-Situation: Das Projekt helfe Flüchtlingen bei der möglichst schnellen beruflichen Integration, zugleich begegne es dem Fachkräftemangel, sagte Staatssekretär Andreas Büttner anlässlich der kürzlich erteilten Förderzusage. Die persönliche Begleitung umfasst die Anerkennung von Schul- und Berufsabschlüssen ebenso wie die Auswahl von Sprachkursen und Qualifizierungsmodulen. Die Erhebung von Soft Skills, persönlichen Stärken und Charaktermerkmalen, soll die passgenaue Vermittlung an Arbeitgeber („Matching“) unterstützen. Doch zwischen Wunsch und Wirklichkeit liegt mancher Stolperstein.
Berufliche Eingliederung setzt neben sprachlichen und fachlichen Qualifikationen auch eine gute Portion kultureller Integration voraus – besonders im Gesundheitsbereich, wo Menschen auf sensible Weise miteinander in Kontakt kommen. Ein Schwerpunkt des Projekts ist daher die interkulturelle Beschäftigung mit Sichtweisen und Werten des Gegenübers sowie einhergehenden Konflikten. Belegbar ist eine hohe Motivation der Teilnehmenden, allerdings bei unterschiedlicher Vorbildung und kulturellen Besonderheiten je nach Herkunftsland. „Das Verständnis von Altenpflege ist in Deutschland völlig anders als etwa in der islamischen Welt“, erläutert Marco Bünger, Chef von Adler Management. „Andere Vorbildung und kulturelle Prägung – etwa auch die Arbeit mit unbekleideten Patienten oder Pflegebedürftigen – führen bisweilen zu traumatischen Erlebnissen und Abbrüchen, besonders bei jungen Männern.“ Muslimische Frauen hingegen, die sich nach religiöser Tradition kleiden, können mit den Hygiene-Vorschriften in hiesigen Krankenhäusern in Konflikt kommen.
Einige Bewerber müssen auch erst überzeugt werden, dass eine fundierte Pflegeausbildung wertvoller ist als das schnelle Geld im Hilfsjob. „Dazu fehlt es an Kenntnissen unseres Systems, manchmal spielt auch ökonomischer Druck eine Rolle“, erklärt Projektmanager Bünger. Diese Aspekte zeigen, wie wichtig die professionelle Begleitung der Bewerber auf ihrem Weg in den Beruf ist – schließlich stehen sie zusammen mit Wegzug und Ausreise für die vergleichsweise hohe Fluktuation von rund 20 Prozent der Teilnehmer. Vor kulturellen Barrieren steht anfangs aber auch mancher Pflegebedürftige, der sich mit der Betreuung durch einen Menschen ausländischer Herkunft schwertut. Bünger ist Optimist: „Wir erleben in Ausbildung und Praxis, dass solche Schwierigkeiten sehr wohl lösbar sind und alle Beteiligten zum echten Miteinander finden können.“
In Ansatz und Komplexität ist „National Matching Brandenburg“ einzigartig in Deutschland, aber auch auf andere Regionen übertragbar. Die zündende Idee lieferte ein Modellvorhaben der Stockholmer Arbeitsagentur, einzelne Bausteine stammen aus Tschechien und Großbritannien. Als sinnvoller Schwedenimport erwies sich das Konzept, ausländische Fachkräfte maßgeschneidert in Jobs ihrer Qualifikation zu vermitteln, anstatt sie an weniger qualifizierte Arbeit zu verlieren.
„Unser Vorhaben trifft überall auf offene Ohren, wenn auch nicht immer auf ungeteilte Zustimmung“, fasst Bünger die Resonanz bei den Arbeitgebern zusammen. Ihr Interesse resultiert aus dem Bedarf an geeignetem Personal und dem Mangel an Fachkräften, die sich in der Fläche des Landes finden. „Allerdings sind die Vorbehalte nicht wegzureden“, bestätigt ein Sprecher des Ministeriums. Bereits seit 2014 werde die Frage interkulturellen Kompetenzen und praktischer Erfahrungen erörtert. Mittlerweile habe sich die Erkenntnis bei vielen durchgesetzt, dass es gezielter Maßnahmen in den Einrichtungen bedarf, um Zugewanderte in den Berufs- und Arbeitsalltag zu integrieren und zu halten. „Und dies kann längst nicht mehr nur auf die Bezahlung reduziert werden und auch nicht nur auf die Zugewanderten selbst.“ Vor allem Kliniken und Reha-Einrichtungen haben das offensichtlich verstanden. So fanden zugewanderte Ärzte aus Berlin bereits beruflichen Anschluss in Brandenburg. Dennoch kann das Projekt nur einen kleinen Teil des Fachkräfteproblems zwischen Prenzlau und Cottbus lösen. Experten schätzen, dass das Potenzial der Geflüchteten im Land Brandenburg lediglich ein Sechstel bis ein Zehntel des steigenden Fachkräftebedarfs der nächsten 10-15 Jahre decken könnte.
Das Klientel hat sich verändert. Es sind nicht mehr die großen Zahlen von Geflüchteten, denen eine Perspektive eröffnet werden muss. Vielmehr rücken jetzt Jugendliche in den Fokus, die bereits länger hier sind und ihre Schulabschlüsse nach deutschem Recht erworben oder nachgeholt haben. „Sie sollen mit gezielten Informationen und einem Sommercamp im Juni 2019 für einen Beruf in der Alten- oder Krankenpflege interessiert werden“, sagt Bünger. „In dieses Camp werden auch Arbeitgeber integriert, quasi ein Matching vor Ort.“ Die Landespolitik will darüber hinaus das Flächenland Brandenburg mit seinen Krankenhaus- und Rehabilitationsklinik-Standorten attraktiv für eine Berufsperspektive für Ärztinnen und Ärzte präsentieren.
Weitere Informationen:
www.national-matching.de
www.adler-management.eu/national-matching-brandenburg
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