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Die Besucher der „Uni der Straße“ büffeln nicht für den Bachelor: Obdach- und Wohnungslose, Arme, Menschen am Rand der Gesellschaft. Ihr Hörsaal und Seminarraum ist das Café Papagei in der Innenstadt von Bremen. Der Tagestreff des Vereins für Innere Mission ist Mittelpunkt eines außergewöhnlichen Bildungsprojekts. „Die ,Uni der Straße’ will ausgegrenzten Menschen Lernfreude und Anerkennung verschaffen, sie an Kultur und sozialem Leben teilhaben lassen“, beschreibt es Café-Leiter Rüdiger Mantei. Das Projekt erfährt Unterstützung durch die Hochschule Bremerhaven und die Universität Bremen.
Seit 2016 halten Dozenten und Fachleute aus anderen Bereichen semesterweise Vorlesungen und Workshops an der Straßen-Uni ab. Die Veranstaltungen müssen spannend, verständlich und lebensnah sein. Das aktuelle Vorlesungsverzeichnis kündigt unterschiedliche Themenblöcke an, etwa zum Konzept der „Neuen Arbeit“ des US-Philosophen Frithjof Bergmann, über soziale Gerechtigkeit und zur Philosophie des Glücks. Hinzu kommen Museumsbesuche, Exkursionen in die Stadtgeschichte, Bildhauer-Workshops und neuerdings ein Kino im Café. In den vergangenen Semestern standen das Geld- und Wirtschaftssystem, das Insolvenzrecht, das Miteinander von Mensch und Hund sowie Street Art in Theorie und Praxis auf dem Themenplan.
Die „Uni der Straße“ verfolgt mehrere Ziele. Zum einen will sie Menschen vom Rand der Gesellschaft zurück in ein würdevolles Leben begleiten. Außerdem möchte sie Bürger zusammenbringen, die üblicherweise in getrennten Welten leben. In dem Café, das in seinem Namen den bunten Vögeln huldigt, ist jeder willkommen. Zu den Veranstaltungen erscheinen nicht nur Wohnungslose, sondern mitunter auch politische Aktivisten, Stadtteilpolitiker und interessierte Bürger. Mantei: „Menschen, die in ihrem Alltag kaum Berührungspunkte haben, diskutieren miteinander, brüten Ideen aus und bauen gegenseitige Vorbehalte ab.“
Die „Uni der Straße“ ging aus einem Bremer Straßenmagazin, der „Zeitschrift der Straße“ hervor. Wegbereiter war jeweils Michael Vogel, Wirtschaftsprofessor an der Hochschule Bremerhaven und Dozent im Café Papagei. Beide Initiativen praktizieren die Einheit von Sozial- und Lernprojekt. So wird die Programmentwicklung der Straßen-Uni durch Absolventen des Studiengangs Public Health der Universität Bremen unterstützt. Eine Zusammenarbeit zu allseitigem Nutzen, erläutert Vogel: „Die Studierenden sollen den Umgang mit partizipativen Forschungsmethoden üben. Dabei werden die Betroffenen zu Beteiligten. Sie werden nicht ,beforscht’, sondern sind Mitforschende und bringen die Kenntnis ihrer eigenen Lebensform in den gemeinsamen Forschungsprozess ein. Am Ende stehen die Themenblöcke für das nächste Semester, die Studierenden erhalten Leistungspunkte.“
Die Straßen-Uni verzeichnet seit ihrem Start im Mai 2016 steigende Resonanz, berichtet Rüdiger Mantei. Bisher zählt er 120 regelmäßige Teilnehmer. Angesichts von 600 Wohnungslosen und 300 Obdachlosen in Bremen ist da noch Luft nach oben. Doch es wäre falsch, den Projekterfolg nur in nackten Zahlen zu messen. Zum einen machen zahlreiche Teilnehmer-Kommentare deutlich, wie lebenswichtig nicht nur Brot und Butter, sondern auch Bildung ist. Zum anderen schlägt das Projekt eine Brücke zur sozialen Umwelt, erläutert Michael Vogel. „Oft genug reagieren Passanten irritiert, wenn sie auf unserem Bürofenster ,Uni der Straße’ lesen. Die Verbindung von Wohnungslosigkeit, Not und Ausgrenzung einerseits sowie Universität, Lernen und geistige Betätigung andererseits ist völlig ungewohnt und bringt zumindest einige Leute dazu, ihre Vorannahmen über das ,Recht auf Bildung’ und den ,Zweck von Bildung’ zu hinterfragen.“
Auffallend, dass es bundesweit immer mehr Hilfsprojekte für Arme und Ausgegrenzte gibt: Tafeln, kommunale Sprechstunden, mobile Ärzte, Obdachlosenzeitungen. Vorbild für die Bremer Straßen-Uni war das Projekt „Straßenkreuzer Uni“ in Nürnberg. Entsteht da eine Art Parallelgesellschaft von Abstiegsbedrohten und Armen? „Diese Frage beschäftigt auch mich, sogar sehr“, bekennt Forscher Vogel. So versorge die Tafel in Bremerhaven täglich 7.000 Menschen mit Essen – bei 110.000 Einwohnern mehr als sechs Prozent. Bremerhaven mit seiner Strukturschwäche und einem erheblichen Sozialhaushalt sei zwar ein Extrembeispiel, stehe aber dennoch für die wachsende Kluft zwischen den oberen und den unteren 10 bis 20 Prozent der Einkommen. „Vor diesem Hintergrund und der recht geringen vertikalen Mobilität (wer unten ist, bleibt unten) würde ich die Frage nach der Parallelgesellschaft mit Ja beantworten.“
Mit Spannung richtet sich der Blick aller Beteiligten auf die Zukunft des Projekts. Dessen Finanzierung durch die Aktion Mensch mit 108.000 Euro läuft dieses Jahr aus. Benötigt wird eine halbe Personalstelle mit rund 25.000 Euro Kosten jährlich. Café-Leiter Mantei: „Wenn es uns gelingt, diese Mittel dauerhaft durch neue Spender und Unterstützer aufzubringen, wird die ,Uni der Straße‘ Bestand haben.“
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