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Ullstein Verlag Berlin, 2022, 352 Seiten, 22,99 Euro
Markus Gabriel gilt als Philosoph der Superlative. Die Medien bezeichnen ihn wahlweise als bekanntesten Philosophen der Gegenwart, als Starphilosophen oder als Rockstar am Philosophenhimmel. Mit gerade mal 29 Jahren wurde Markus Gabriel zu Deutschlands jüngstem Philosophieprofessor berufen, hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie an der Universität Bonn inne. Der „Hochgeschwindigkeitsphilosoph“, wie Kollegen ihn scherzhaft nennen, ist zudem seit 2022 Academic Director der Hamburger Denkfabrik „The New Institute“ und leitet in Bonn das Internationale Zentrum für Philosophie. Unsere Autorin Maicke Mackerodt hat Markus Gabriel dort besucht und in der Bibliothek gefragt, weshalb er in „Der Mensch als Tier“ das geläufige Menschen- und Naturbild nicht nur in Frage, sondern auf den Kopf stellt.
Der Mensch und die Vorstellung, die er von sich selbst hat, ist in der Krise. „Wir wissen nicht mehr, wer wir sind und was wir wollen“, behauptet Markus Gabriel und fordert eine Neuorientierung unseres geläufigen Menschen- und Naturbildes. Einen frischen Blick auf die sehr komplexe Verklammerung des Menschen mit der Natur. Denn seiner Meinung nach sind wir weder unsere Hirnströme oder ein Neuronengewitter, noch unser Bewusstsein oder eine unsterbliche Seele. Der Philosoph ist vielmehr davon überzeugt: Wir Menschen sind Tiere, aber nicht Teil des Tierreiches. Überspitzt formuliert: Es gibt für den Autor gar keine Tiere.
Dieser ziemlich gewöhnungsbedürftige Ansatz bedeutet für Markus Gabriel, bei „unserer Natur“ anzusetzen und so den ganzen Menschen wieder ins Zentrum zu rücken, von dem er sich zu Unrecht entfernt habe.
Die wildeste These, wie Markus Gabriel es nennt, ist in „Der Mensch als Tier“: Nur der Mensch ist ein Tier, obwohl der Mensch nicht nur ein Tier ist. Was meint der Autor damit? „Der Begriff des Tieres bezog sich immer auf irgendetwas, das so ähnlich ist wie wir, dem aber etwas fehlt“, sagt Markus Gabriel im Interview mit unserer Autorin. „Menschen, so dachte man, haben Vernunft und Sprache. Menschen haben Moral und Kultur, während die anderen Lebewesen, die man so wahrnehmen kann, wie Affen, Vögel, Tiger, Schlangen und Insekten, von denen dachte man, sie sind so ähnlich wie Menschen, aber es fehlt ihnen etwas.“ Dieser Tierbegriff ist für den Philosophen „fundamental falsch“, weil er so gar nicht dem entspricht, was wir heute über die Tiere wissen.
Für Markus Gabriel ist der Mensch das einzige Tier des Universums, alle anderen lebendigen Lebewesen nicht. Im Gegensatz zu Spinnen, Eidechsen, Löwen oder Walen besitzt der Mensch ein Bild von sich selbst, von seiner eigenen Tierhaftigkeit und wie er in die natürliche Umwelt eingebettet ist. Seiner Meinung nach sind Menschen zudem Tiere, die nicht über anderen lebendigen Wesen stehen. Sich selber als Tier wahrzunehmen, das klingt verwirrend und paradox. Er habe das beim Schreiben selbst praktiziert und sei auf Phänomene wie Endlichkeit und Verletzlichkeit gestoßen worden, erzählt der in Bonn und Hamburg lebende Philosophieprofessor.
„Der fundamentale Unterschied zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen auf unserem Planeten ist, dass wir das tun, was wir tun im Lichte eines Selbstbildes, also einer Vorstellung davon, wer wir sind oder was wir sind und wie wir uns vom Rest der Wirklichkeit unterscheiden.“ Dieser Satz ist das Credo des Autors – und noch etwas ist ihm wichtig: „Wir haben diese Vorstellung vom Animalischen in uns. Dann stellen wir uns das Menschliche vor, ohne das Menschliche, das Tier in uns sind wir, aber ohne unsere Vernunft. Das sind unsere Instinkte, Begierden, Leidenschaften und Aggressionen.“ Für den Philosophen meinen wir, wenn wir vom Tier in uns reden, Mensch ohne irgendetwas. Genau das ist für Markus Gabriel ein Fehler.
Seit der Aufklärung begreift sich der moderne Mensch als Teil der Natur – und unterjocht alles seinen Vorstellungen. Für Markus Gabriel gibt es beispielsweise deshalb Zoos und Wildparks, weil wir versuchen, die Natur und das Tiersein aus der menschlichen Gemeinschaft, aus unserer Lebenswelt auszusperren. Für den Philosophen ist der Mensch in erster Linie ein Mischwesen aus Geist und Natur. Ein freies geistiges Lebewesen, das sich über Kultur verständigt, mit der Fähigkeit zu kritischer Reflexion, zu Vernunft und zu Moral. „Im Menschen als Tier reichen sich Natur und Geist die Hand“, das sei ihm beim Schreiben klargeworden, sagt Markus Gabriel.
„Dass auch der Geist eine Natur hat. Auch unser geistiges Leben, unser hochkulturelles Leben, wenn man so will, hat eine Naturseite. Das heißt, etwas an diesem Leben, was wir nicht so richtig verstehen können, was sich uns entzieht, was nicht greifbar ist, was unterschwellig ist.“ Für Markus Gabriel gibt es einen Geist der Natur und eine Natur des Geistes. „Und diese Verschränkungen zwischen Natur und Geist, zwischen, wenn man so will, dem was wir als höher wahrnehmen, und dem, was uns als evolutionäre Vorstufe erscheint, diese Verschränkungen, von denen habe ich beim Schreiben des Buches sehr viel gelernt“, bilanziert der Autor.
Hier kommen für den Autor die aktuellen Krisen ins Spiel. Seit der Mensch glaubt, er ist Teil der Natur, zerstört er sie. Diesem Paradox geht der Philosoph nach, deswegen lautet der Untertitel von „Der Mensch als Tier: Warum wir trotzdem nicht in die Natur passen“. Corona, Krieg und Klimawandel sind für Markus Gabriel vor allem eine „fundamentale Krise der Menschheit selbst“. Genau deshalb, weil Menschentiere, wie er sie nennt, nicht vollständig Teil der Natur sind, können sie die Umwelt und Naturkatastrophe abwenden, indem sie sich zum Beispiel von ihrer Staats- und Wissenschaftsgläubigkeit lösen.
„Wir versuchen immer nur, durch Politik, Geld, Technik und Naturwissenschaft, alles zu beherrschen. Das ist das Problem, nicht die Lösung, weil es uns an den Rand einer gigantischen Selbstzerstörung gebracht hat.“ Die gilt es mit einer Ethik der Bescheidenheit, einer Ethik des Nichtwissens zu ersetzen, fordert Markus Gabriel.
Für ihn ist es ein Irrglaube unserer Zeit, „dass wir nur noch ein bisschen weiterforschen müssen, dann können wir alle unsere Probleme schon lösen“. Der zweifache Vater hält dies deshalb für gefährlich, „weil wir durch diesen Irrglauben geleitet, die ganze Zeit die Natur zerstören“. Der richtige Weg wäre für den Autor, zu erforschen, wo die Grenzen unseres heutigen Wissens liegen – und anzuerkennen, wo die Grenzen des Wissens liegen, die wir seiner Meinung nach niemals überwinden können.
Und dann gelte es mit epistemischer Bescheidenheit, also mit einer vollen Anerkennung dessen, dass wir vieles auch nicht wissen, unsere Gesellschaft zu gestalten.
Für den Autor haben wir Technik und Naturwissenschaft massiv entkoppelt von unserem humanen, moralischen Fortschritt. Spätestens in der Pandemie sei deutlich geworden, wie wenig wir über Viren und Bakterien wissen. „Dabei übersehen wir, dass die Wissenschaft den Verbrennungsmotor und die Atombombe produziert hat, ebenso wie die Energiekreisläufe, die uns jetzt auch in die Abhängigkeit zu Russland gebracht haben. Das sind ja alles Ingenieursleistungen und naturwissenschaftliche Produkte.“
Für Markus Gabriel ist der Ruf nach mehr Wissenschaft, um Probleme zu lösen, die ja die Wissenschaft generiert hat, paradox. Um die anstehenden Krisen zu bewältigen, brauche es ein „neues zivilisatorisches Modell“. Dazu gehört für Markus Gabriel, bescheiden und demütig zu sein, als Gesellschaft zu lernen mit der Fehleranfälligkeit des Menschen zurechtkommen und zu schauen, welche Lösungen die Natur oder die indigenen Völker anbieten.
Markus Gabriel ist sich ganz sicher: Eine Herrschaft der Angst vor Corona, Klimawandel und Krieg hilft nicht, die komplexen Krisen zu lösen, was hilft seien „bestenfalls liberal demokratische Verfahren“. Um diesen Verfahren den nötigen Wert wiederzugeben, wie er es ausdrückt, brauche es Zeit zur Deliberation, also zum Abwägen, zu Debatten mit einem ganz anderen Tempo. „Der Klimawandel hört nicht auf zu irgendeinem Zeitpunkt den ein heute lebender Mensch jemals erleben wird. Egal, was wir heute oder in den nächsten 30 Jahren tun, niemand von uns und auch unsere Enkel nicht, werden erleben, dass alles wieder gut wird wie im vorindustriellen Zeitalter.“ Dieser Zug ist für Markus Gabriel abgefahren.
Mit akademischem Humor, klar und gut verständlich erläutert Markus Gabriel in „Der Mensch als Tier“, weshalb wir ein gesünderes Menschenbild brauchen, um zu überleben. Mitunter ist es etwas mühsam, seinen anthropologisch dichten Argumenten zu folgen, auch wenn sie mit vielen lebensnahen Beispielen untermauert sind. Der besondere Charme besteht aber genau in diesem Wechsel zwischen philosophischer Theoriebildung, die Gabriel rhetorisch brillant beherrscht, und aktuell-politischen Zuspitzungen, die sich aus den gegenwärtigen Stapel-Krisen ergeben.
Seine Bücher – neben Fachliteratur auch populärwissenschaftliche Bestseller – wurden in 15 Sprachen übersetzt. Markus Gabriel lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Bonn, ist aber für die Dauer seiner Tätigkeit am Hamburger New Institute von seiner Lehrtätigkeit vor Ort beurlaubt.
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Markus Gabriel: „Der Mensch als Tier. Warum wir trotzdem nicht in die Natur passen“
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