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„Wie tickt Deutschland“?* fragt der Kölner Sozialpsychologe Stephan Grünewald in seinem gleichnamigen aktuellen Buch.* Die Antwort beschreibt eine merkwürdig verunsicherte Gesellschaft, die sich auf einer Insel des Wohlstands weiß, aber angesichts einer Welt krisenhafter Umbrüche ihre Mitte verloren hat. Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt jetzt eine Erhebung des Instituts für Demoskopie Allensbach. Sie fühlt der „Generation Mitte“ den Puls, den 30- bis 59-Jährigen im Lande. Materiell geht es ihr so gut wie nie, dennoch sieht sie die wirtschaftliche Zukunft eher düster und sorgt sich um das soziale Miteinander.
Zunächst einmal: Wer ist die „Generation Mitte“? Diese Altersgruppe umfasst hierzulande rund 35 Millionen Menschen, die mitten im Berufsleben stehen, Kinder erziehen, die sozialen Sicherungssystem finanzieren und mehr als 80 Prozent der steuerpflichtigen Einkünfte erwirtschaften. Die „Generation Mitte“ sind gemäß vorliegender Studie „die Leistungsträger der Gesellschaft“. Die Analyse besteht in einer jährlichen Bestandsaufnahme der Einstellungen, Sorgen und Erwartungen dieser Menschen, erstellt vom Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag des Gesamtverbands der Versicherungswirtschaft. 1.103 Männer und Frauen im Alter zwischen 30 und 59 Jahren wurden befragt.
Die Befragten sind mehrheitlich (59 %) mit ihrer wirtschaftlichen Situation sehr zufrieden und bewerten sie sogar noch besser als im Vorjahr: Lediglich neun Prozent verorten sich auf der Verliererseite. 44 Prozent sehen sich besser situiert als vor fünf Jahren, 16 Prozent schlechter. Das Interessante daran: In Ostdeutschland verbuchen in diesem Zeitraum sogar 46 Prozent der Generation Mitte eine Verbesserung ihrer persönlichen Situation und elf Prozent eine Verschlechterung.
Kann die deutsche Wirtschaft ihre starke Position in den nächsten Jahren verteidigen oder wird sie eher zurückfallen? Aus der Antwort auf diese Frage spricht bei 41 Prozent der Umfrageteilnehmer die Sorge, mit dem Land könne es im internationalen Wettbewerb bergab gehen, nur ein knappes Viertel (24 %) ist zuversichtlich, dass die Wirtschaft ihre starke Position halten wird. Dabei fällt auf, dass mit dem sozioökonomischen Status der Befragten auch die Sorge vor nachlassender Konkurrenzfähigkeit wächst. Unter den zehn größten ökonomischen Risiken rangieren der Fachkräftemangel (67 %), die Politik des US-Präsidenten (66 %) und die Gefahr, dass Deutschland den technologischen Anschluss verpassen könnte (57 %), an der Spitze. Auch die Einschränkung des freien Handels, Mängel im Bildungswesen und das Erstarken der chinesischen Wirtschaft trüben den Zukunftsoptimismus merklich.
Hinzu kommt die Furcht vor der Ellenbogen-Gesellschaft. „Aggressivität und Egoismus, immer weniger Respekt und auch eine wachsende Fremdenfeindlichkeit bereiten der mittleren Generation Sorgen", sagte Allensbach-Geschäftsführerin Renate Köcher. Gutes Benehmen verliert an Bedeutung, die Menschen sind ungeduldiger, Regeln werden weniger beachtet, auch Polizei und Rettungskräfte werden aggressiv angegangen – diese Wahrnehmung eint eine große Mehrheit der Befragten (81 %). Deren persönliche Erfahrungen mit rücksichtslosem Verhalten konzentrieren sich stark auf Straßenverkehr, Internet und öffentliche Verkehrsmittel.
Die Meinungen darüber, was Menschen in unserer Gesellschaft trennt, liegen in Ost und West in vielen Punkten nahe beieinander: die soziale Schicht und Generation, zu der man gehört, das Einkommen oder ob man aus Deutschland oder einem anderen Land kommt. Die Geister scheiden sich aber klar an der regionalen Herkunft. Mehr als die Hälfte der Ostdeutschen (55 %) glaubt, dass die Herkunft aus Ost oder West ein trennendes Merkmal ist, hingegen nur ein Drittel (35 %) der Westdeutschen. Ostdeutsche nehmen die Herkunft als ein wichtigeres Bestimmungsmerkmal wahr als den Bildungsabschluss (46 %), den Beruf oder familiär vermittelte Werte – ein Befund, der die Autoren der Studie von einer Ost-West-Spaltung sprechen lässt.
Wie geht es weiter mit der „Generation Mitte“? Die vorliegende Analyse geht darauf nicht ein. Von der Digitalisierung bis zu einer neuen internationalen Ordnung, zu groß sind die Herausforderungen, um weiterhin in der Komfortzone zu verharren. Es komme darauf an, dem Pessimismus, der Wut und Verzagtheit der verunsicherten Bürger eine Zukunftsutopie, eine neue Erzählung gesellschaftlichen Fortschritts und Miteinanders anzubieten, fordert der oben genannte Psychologe Grünewald in einem ZEIT-Interview: „Umso wichtiger ist es, die Unruhe in schöpferische Energie umzuwandeln, was den Deutschen ja auch immer wieder gelungen ist.“ Es gelte, die großen Erzählungen, die Deutschland zur Erfolgsgeschichte werden ließen – Wirtschaftswunder und Wiedervereinigung – in einem neuen Kapitel fortzuschreiben. Der Klimawandel sei das künftige Megathema, so Grünewald, das insbesondere von der jungen Generation vorangetrieben wird.
* Stephan Grünewald, Wie tickt Deutschland? Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 192 Seiten, ISBN 978-3-462-05244-2
Stephan Grünewald, „Da ist immer ein Zweifeln, eine rastlose Suche nach sich selbst“, Interview bei ZEIT-online, 15. Mai 2019
Generation Mitte 2019, hg. vom Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag des Gesamtverbands der Versicherungswirtschaft, Berlin 2019, 25 Seiten, Download
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