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Droemer HC München 2023, 432 Seiten, 26 Euro
Evelyn Roll ist bekannt für ihre geschliffene Feder und einen anschaulichen Erzählstil. Die vielfach ausgezeichnete Journalistin hat Angela Merkel über Jahrzehnte beobachtet und drei Biografien über die Altkanzlerin geschrieben.
Nebenbei hat Evelyn Roll sich intensiv mit neurowissenschaftlicher Fachliteratur beschäftigt, als hätte sie geahnt, dass ihr 2011 eine Arterie im Gehirn platzt. Die Journalistin überlebt wie durch ein Wunder die Not-Operation am offenen Gehirn und bekommt so ein zweites Leben geschenkt. Das Monster in ihrem Hirn, wie sie das sogenannte Aneurysma Pericallosa nennt, beauftragt sie, verschüttete Erinnerungen, blinde Flecken und Lebenslügen in ihrer Familie freizulegen. Im Gespräch mit der BFS-Trendinfo-Autorin Maicke Mackerodt erzählt Evelyn Roll von der Spurensuche in ihrer Familiengeschichte.
„Ich glaube, dass man sehr viel von allem, was heute auch in Europa passiert, versteht, wenn man sich das klarmacht, wie diese beiden Weltkriege das ganze normale Leben auf furchtbare Art und Weise umgepflügt haben“, sagt Evelyn Roll im Skype-Gespräch. „Aber es hat auch Menschen zusammengebracht, die sich niemals sonst kennengelernt hätten.“
Eigentlich wollte Evelyn Roll ihre Erinnerungen mit dem Satz beginnen: „Ohne Adolf Hitler wäre ich nicht auf der Welt.“ Denn ohne Adolf Hitler hätte ihre Mutter, die wohlhabende Tochter eines Firmenbesitzers aus Lüdenscheid im Sauerland, niemals ihren mittellosen Vater als „passablen Ehemann“ akzeptiert.
„Niemals hätte diese Plutokraten-Tochter, wie sich meine Mutter nannte, den Sohn eines zum Schienenwärter aufgestiegenen Hilfsarbeiters, der im heutigen Polen geboren ist, zum Ehemann genommen. Das war in dieser Gesellschaftsschicht nicht vorgesehen.“ Ihre Eltern seien sich nur begegnet, weil der spätere Vater von Evelyn Roll Soldat war „und gegen Ende des Krieges im Ruhrkessel landete, wo er sich und den Rest seiner kleinen Einheit auf dem Hof meines Großvaters einquartiert hat“. Und dass der erste Mann meiner Mutter schon tot war, „auch das verdanke ich, in Anführungszeichen, Adolf Hitler. Dem haben sie in der Ukraine den Kopf weggeschossen, also war sie mit 23 Jahren bereits Witwe und schon wieder frei.“
In „Pericallosa“ nennt es Evelyn Roll einen „hochinteressanten Zufall“, dass die moderne Gehirnforschung seit über 20 Jahren ihre „obsessive Leidenschaft“ ist. War es Fügung? Wohl eher nicht, schreibt die heute 71-jährige Autorin, es habe ihr vielmehr geholfen zu wissen: „In einem Kubikzentimeter des menschlichen Gehirns gibt es mehr Verbindungen, als die Milchstraße Sterne hat.“ In den vielen Wochen auf der Intensivstation kehrt Evelyn Roll, die bewegungslos in einem Schneewittchensarg liegt, wie sie das Pflegebett nennt, immer wieder in ihre Kindheit zurück. Sie erinnert sich, dass sie auf der Fahrt zum Wochenendhaus ihrer Eltern im Sauerland jedes Mal auf der Brücke der Versetalsperre fröstelt. Erst viel später sei ihr klargeworden, dass sie ihre Eltern nie darauf angesprochen hat.
„Neurologisch gesprochen waren das meine Spiegelneuronen, die auf das reagiert haben, was die Erwachsenen im Auto dachten, fühlten oder auch nicht dachten und mit vielleicht großer Anstrengung verdrängt hatten. In der Versetalsperre ist ein später zum Konzentrationslager umgewandeltes Arbeitslager der Nazis gewesen, in dem ziemlich gruselige Dinge passiert sind.“ Heute könne man das auf Wikipedia nachlesen, aber damals war das geheim. Und erst viel später fand Evelyn Roll heraus, dass auch ihr Großvater „konkret verstrickt war in diese Zwangsarbeitergeschichte, und auch mit Zwangsarbeitern den Staudamm für diese Versetalsperre gebaut hat“. Und er hat in seinem Privathaushalt und auf seinem Bauernhof Zwangsarbeiter beschäftigt. „Wie fast alle wohlhabenden Haushalte in meiner Heimatstadt Lüdenscheid Zwangsarbeiter beschäftigt haben“, so Evelyn Roll. Nur, dass sie niemals so genannt wurden.
Bei ihrer Spurensuche entdeckt Evelyn Roll auch den Nazi-Erziehungsratgeber von Johanna Haarer wieder, über „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. „Ein böses Buch, in dem es immer nur darum geht, die Bedürfnisse eines Babys gezielt zu ignorieren“, schreibt die Autorin, „das hat mich tiefer geprägt und verletzt hat, als ich es immer noch wahrhaben will“. Sie wisse heute noch nicht, ob sie um sich als Baby weinen möchte oder um ihre distanzierte Mutter, die ihre drei Kinder nach der Entbindung dem Personal überließ und mit ihrem Mann verreiste.
Bei allem Schmerz sei „ihr gleichzeitig nur halb bewusst gewesen, wie frei die jungen Frauen in den 20er Jahre gewesen sind“, sagt Evelyn Roll. Und was für einen grauenhaften Rückschritt die Mutterideologie der Nazis bedeutete. „Es war in so einem krassen Gegensatz zu dem Leben, was meine Mutter als junge Frau hatte. Wo sie schon kleine Zeitungsfeuilletons geschrieben hatte, im offenen Cabrio durch Berlin fuhr und so ein Gefühl hatte, wir Frauen können und dürfen alles, wenn wir uns anstrengen.“
Nach dem Krieg fand sich ihre Mutter wieder als Ehefrau des Mannes, der diese Firma, also sie geheiratet hatte, mit drei Kindern, geparkt in der Parkstraße, als Hausfrau und Mutter. „Das war mir nicht so bewusst, das teilen ja wahrscheinlich viele Menschen meines Alters, dass sie solche Mütter hatten, die mit ganz anderen Ambitionen ins Leben gegangen sind und sich durch politische Gründe plötzlich in so einer ganz veralteten Frauenrolle wiederfanden.“ Sie habe das „mit einigem Schrecken“ zur Kenntnis genommen, sagt die Autorin, es müsse nur die falsche Partei an die Macht kommen und alles könnte sich wieder umdrehen.
Ihre Arbeit als Journalistin empfindet Evelyn Roll als Berufung und weniger als Erfüllung des Lebenstraumes ihrer Mutter. „Wenn wir die nicht erfüllten Lebensträume unserer Eltern leben, entwickeln wir uns genau in dem evolutionstechnischen Sinn weiter, wie es von der Natur gewünscht ist“, sagt die Publizistin heute. Die Träume ihres Vaters sind ihr dagegen lange fremd geblieben.
Evelyn Roll spürt ihrer Vatersehnsucht, wie sie es nennt, nach und entdeckt einen lebenslustigen Aufschneider, der auf seinen Kriegsreisen nach Bulgarien, Serbien, Makedonien oder Kreta überall Liebschaften hatte – entdeckt aber auch einen Vater, der seinen ersten Sohn im Krieg zurückgelassen und verleugnet hat. Und sie begreift, dass ihr Vater zweimal vertrieben worden war, sie also die Tochter eines Vertriebenen ist, was nie Thema in der Familie war. Und sie erkennt, dass sie die Vertriebenenkrankheit in sich trägt. Damit meint sie: gehen ohne Abschied.
„Ich habe beide Eltern in mir und das ist widerstreitend: Einerseits gewissenhaft immer die Beste sein wollen, Mutters beste Tochter. Andererseits auch diese Lust zu leben in sich haben und das, was in den Wehrmachtszeugnissen meines Vaters immer wieder ‚leichtlebig‘ hieß. Das beschreibt ganz gut, wie mein Vater war, und ich bin auch leichtlebig. Wenn man strebsam, fleißig Karriere machen will, in einer Männerwelt eine gute Journalistin sein will, passt das nicht so ganz zusammen", sagt Evelyn Roll. Das Kind dieser beiden Eltern zu sein, habe sich für sie ein Leben lang angefühlt wie Vollgas geben und gleichzeitig auf die Bremse drücken. Pericallosa habe ihre künstlerische Ader freigelegt: „Ich mache jetzt Sachen, von denen ich früher immer gesagt habe, im nächsten Leben werde ich Orgel spielen, großformatige Bilder malen. Das mache ich jetzt alles, weil ich weiß, mein nächstes Leben ist jetzt.“
Um ihren Familiengeheimnissen auf die Spur zu kommen, reist die Autorin nach Polen in die Ortschaften, in denen ihre Vorfahren väterlicherseits gelebt haben. Evelyn Roll fährt in die Stadt, in der ihr Vater geboren ist. Darüber erst erfährt sie, dass sie jede Menge Verwandte in der DDR hatte.
„Musiker, Künstler, Schauspieler. Ich war im Sommer wieder auf einem Gartenfest in Sachsen, da sitzen drei Tage und drei Nächte mehr als 40 Personen an langen Tafeln und alle stammen von meinem Großvater ab. Alle sind für mich neu und trotzdem ganz nah, weil sie den anderen Teil meiner Familie, also auch meiner selbst verkörpern. Wenn dieses Monster in meinem Kopf nicht geplatzt wäre, würde ich heute noch nicht wissen, dass ich diese wunderbaren Verwandten habe. Das verdanke ich Pericallosa.“
In dem biografischen Essay „Pericallosa. Eine deutsche Erinnerung“ verknüpft Evelyn Roll meisterhaft ihr Wissen über Gehirnforschung nicht nur mit ihrer eigenen Verdrängung. Sondern auch mit der Verdrängung der Babyboomer-Generation, die im Wirtschafts-Wunderland erwachsen wurde und in der Erinnerung nicht an der Tagesordnung war. Evelyn Roll liest in alten Fotoalben und Tagebüchern, deren Inhalte sie für wahrer hält als vermeintlich „wahre Erinnerungen“. Sie forscht in Melderegistern und polnischen Archiven, liest alte Briefe und Wehrmachtsdokumente und sucht akribisch nach blinden Flecken und Leerstellen, „die wir uns über uns selbst erzählen und unser Leben nennen“, wie die Autorin es ausdrückt. „Pericallosa“ berührt, geht unter die Haut und hallt lange nach. Unbedingt lesen!
Weiterführende Links:
ARD, Titel – Thesen –Temperamente vom 24.09.2023
NDR. DAS! Vom 06.09.2023
alle abgerufen am 06.10.2023
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