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In seiner Zeit als Finanz- und Personalvorstand der Evangelischen Stiftung Alsterdorf hat Wolfgang Kraft mit Unterstützung der SozialBank und weiterer Partner ein neuartiges und deutschlandweit einmaliges Konzept der Behindertenhilfe realisiert: den Alsterdorfer Markt, auf dem auch die SozialBank Hamburg zu Hause ist. Für die Öffnung der ehemaligen Alsterdorfer Anstalt ins Quartier erhielt das Projekt u.a. 2013 den renommierten Senator-Neumann-Preis. Er wird alle fünf Jahre an Einrichtungen oder Personen verliehen, die sich in „hervorragender Weise und mit innovativer Wirkung“ für das selbstverständliche Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung engagieren und dadurch zu einer inklusiven Gesellschaft beitragen. Im Zeitzeugen-Interview zum 100-jährigen Bestehen der SozialBank blickt Wolfgang Kraft auf das wegweisende Modellprojekt zurück.
Alsterdorf ist eine Komplexeinrichtung, das heißt, sie besteht aus unterschiedlichen Angeboten und Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen, Therapieangebote, Wohnangebote und ambulante Dienste vor allen Dingen für Menschen mit Behinderungen. Die Stiftung Alsterdorf ist Hamburgs größter Anbieter im Sozialbereich. Sie hatte damals schon über 3.000 Mitarbeiter, als ich dort beschäftigt war.
Die bestimmenden Themen in unseren ersten Kontakten waren auf der einen Seite die Beschaffung von finanziellen Mitteln und auf der anderen Seite, einen Partner zu finden, der die schwierigen Sanierungsprozesse begleitet. Und zwar einen, der das nicht begleitet wie ein Buchhalter, sondern jemanden, der eine strategische Partnerschaft wollte.
Als ich nach Alsterdorf kam, gab es einige Probleme, vor allem mit dem Stiftungsgelände, das zum Teil marode war, mit alten Gebäuden, die wirklich nicht mehr den neuesten, modernen Anforderungen zu dieser Zeit entsprachen.
Die Lösung der Probleme begann mit einem Sanierungskonzept. Die Hansestadt Hamburg war sehr bemüht, zur Sanierung von Alsterdorf beizutragen. Sie war bereit, Mittel in die Sanierung zu geben unter der Bedingung, dass die Stiftung Alsterdorf einen Sanierungsbeauftragten benennen würde, der mit einer Sondervollmacht als alleiniger Verhandlungspartner mit der Stadt in Erscheinung treten sollte. So wurde ich Sanierungsbeauftragter. Das war 1993/94. Das führte dann im Dezember 1995, also kurz vor Weihnachten, am 21. Dezember, zur Unterschrift einer Sanierungsvereinbarung, bei der Banken, Kirche und die Stadt Hamburg sich gemeinsam zu einer großen Lösung durchgerungen hatten. Danach kam der Kontakt mit der Bank für Sozialwirtschaft. In der Art und Weise, wie sie uns begleitet hat, war sie der vierte Partner in diesem großen Bund.
Ja. Es war eine Entwicklung, die über Jahre ging. Es ging los mit der Sanierungsvereinbarung. Diese sah vor, dass wir über 100 Einzelmaßnahmen in den Prozess bringen mussten. Dann erfolgte zwei Jahre später das Bündnis für Investition und Beschäftigung. Das war der Eigenanteil für die Gesamtsanierung der Gebäude. Die andere Hälfte musste der Finanzmarkt bringen und dabei spielte die Bank für Sozialwirtschaft eine wichtige Rolle.
Erst waren es Kreditverträge. Das ist völlig normal. Aber dann haben wir in diesem Konzept inhaltlich sehr neue Wege beschritten. Es begann damit, dass man über Integration gesprochen hat. Behinderte Menschen müssen raus in die Städte. Dieses Abgeschlossene innerhalb eines Anstaltsgeländes, was wir vorerst waren, mit Zaun und Schranke und Pförtner, das haben wir alles aufgehoben. Es ist ein Marktplatz entstanden, der Alsterdorfer Markt, mit Aldi und Edeka, mitten auf dem Gelände. Auch ein Verwaltungshaus mit unterschiedlichen Büros, Rechtsanwaltskanzleien, Arztpraxen, alles Mögliche kam dazu. Das war das Prinzip: Nicht zu sagen, alle Menschen mit Behinderung müssen in die Stadt raus, sondern wir holen die Stadt auf das Gelände. Wir nannten das „reziproke Integration“. Der Alsterdorfer Markt war das wesentliche Sanierungsprojekt, das deutschlandweit beispiellos war und auch in vielen Aspekten nachgeahmt wurde. Da hat die Bank für Sozialwirtschaft, um auf Ihre Frage zurückzukommen, sich auch selbst eingemietet und seitdem ihre Geschäftsstelle Hamburg am Alsterdorfer Markt etabliert.
Das Besondere war das neue Konzept der Inklusion. Über 1.000 Menschen wohnten plötzlich in Wohnungen in der Stadt Hamburg, ambulant betreut durch uns, aber in stationärer Unterbringung. Das war das Neue dabei. Sie hatten kleine Wohnungen, 1-2-Zimmer-Wohnungen, und es gab auch 4-5-Zimmer-Wohnungen, die als Zentrum etabliert wurden, wo die Menschen zusammenkommen konnten. Das war zur damaligen Zeit eine einmalige Sache. Heute ist es Normalität.
Nein, würde ich so nicht sagen. Es gab jedoch die Mitarbeitenden von Alsterdorf, die da aktiv waren. Ich selbst war auch sehr aktiv dabei. Wir haben uns auch in den USA Projekte angeschaut und kamen mit dem Begriff „Community Care“ zurück. „Community Care“ bedeutet, dass man für Menschen mit Behinderung keine eigene Sondereinrichtung oder Sonderangebote braucht, sondern sie ganz normale Dienste nutzen. Sie lassen sich, wie andere auch, bei den Hausärzten behandeln. Sie gehen in Schulen oder Kitas, ganz normal wie andere Kinder eben auch. Dieser Community-Care-Ansatz war relativ neu und gehörte zur inhaltlichen Fortentwicklung der gesamten Behindertenhilfe.
Nein, die Anstalt aufzubrechen, das war nicht einfach. Auch die Begrifflichkeiten sind hochinteressant. Man hatte sehr lange darüber nachgedacht, wie ein Mensch mit Behinderung bezeichnet wird, was ist er? Ist er ein Betreuter? Ist er ein Hilfeempfänger? Ist er ein Klient? Oder ist er ein Kunde? Oder ist er ein User? Das zeigt, wie die ganze Versorgungslandschaft damals versucht hat, sich neu inhaltlich auszurichten.
Wir haben das semantische Problem dann so gelöst: Wir haben Assistenzgesellschaften gegründet und haben den Begriff „Assistenz“ in Deutschland bekannt gemacht, weil der Assistenzgedanke inhaltlich das Wichtige war. Die Menschen bekommen Assistenz zur Lebensführung, soweit es erforderlich ist, aber sie tragen nach wie vor die Verantwortung. Ein Assistent hat nie die Verantwortung, sondern immer derjenige, dem er assistiert. Und da haben wir ganz klar gemacht, dass eben auch Menschen mit Behinderung verantwortlich sind für ihr eigenes Leben. Die Auflösung der Anstalt führte auch dazu, dass die Menschen plötzlich verantwortlich wurden.
Ja. Da war ich auch einige Jahre und das war auch eine interessante, spannende Zeit. Ich habe dort viele gesellschaftliche wie auch fachlich interessante Veranstaltungen miterlebt und viele Kontakte geschlossen. Das war das Schöne, dass die Bank ein Netzwerk aufgebaut hat, für die Kunden untereinander.
Das Besondere an der Bank für Sozialwirtschaft, so war mein Eindruck und mein Erleben, war, dass man sich nicht nur als Kunde gefühlt hat. Das fand ich sehr angenehm. Es war immer grundsätzlich gleiche Augenhöhe, egal, um wie viel Geld es ging. Man hat sich wirklich als Partner gefühlt.
Der Unterschied zu anderen Banken war für mich insofern deutlich, dass sie nicht so kleinlich, buchhalterisch vorging, sondern, das sie, wenn sie gespürt hat, dass hier eine Bewegung oder eine Entwicklung im Gange war, außergewöhnlich schnell agiert hat. Sie hat schnell begriffen, was da von statten ging und hat sofort mitgemacht. Das war aus meiner Sicht grandios.
Eine Bank wie die Bank für Sozialwirtschaft wird auch in Zukunft ganz besonders wichtig sein, wenn sie sich nicht funktional als Kreditversorger begreift, sondern als Partner der Unternehmensentwicklung ihrer Kunden. Und das natürlich noch mit ein bisschen Empathie. Das ist genau das, was ich immer geschätzt habe und was ich mir auch weiter wünschen würde von einer Bank.
Herr Kraft, vielen Dank für das Gespräch!
Weitere Informationen zur Evangelischen Stiftung Alsterdorf:
www.alsterdorf.de
Das Zeitzeugen-Interview mit Wolfgang Kraft ist als Video abrufbar auf der Jubiläumswebsite der Bank für Sozialwirtschaft:
www.gemeinsam-sozial-wirksam.de
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