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Koesel Verlag, München 2018, 192 Seiten, 20,- Euro, ISBN: 978-3466347025
Der Direktor der gynäkologischen Klinik der Berliner Charité liebt seine sinnliche orientalische Kultur, aber auch seine deutsche und europäische Identität. Er ist der erste arabischstämmige Ordinarius in der Frauenmedizin in Deutschland. Für Jalid Sehouli, Sohn marokkanischer Einwanderer, steht Wahrhaftigkeit bei Arztgesprächen an oberster Stelle. Als Gynäkologe und Chirurg führt Professor Doktor Jalid Sehouli (50) Tag für Tag Gespräche darüber, wie das Leben weitergehen kann. Der Chefarzt weiß aus Erfahrung: Ein einziger Satz mit der Diagnose Krebs kann ein Leben von Grund auf verändern. Im englischsprachigen Raum spricht man von „Breaking Bad News“, wenn lebensbedrohliche bis tödliche Nachrichten überbracht werden. Schwierige oder schlechte Nachrichten möglichst empathisch-konstruktiv zu überbringen, das ist eine hohe Kunst.
Man geht davon aus, dass eine Ärztin, ein Arzt im Berufsleben etwa 200.000 schlechte Nachrichten überbringen müssen. Wer sollte es folglich am besten wissen, wie man solche Gespräche führt, die darüber entscheiden, ob ein Leben gut oder schlecht weitergeht? Jalid Sehouli ist Experte für gynäkologische Onkologie, mit Schwerpunkt Eierstock-, Bauchfell- und Eileiterkrebs und zählt zum Kreis der weltweit führenden Krebsspezialisten. Seine Patientinnen kommen aus der ganzen Welt, sogar aus China und Amerika. Die Wahrheit ist oft gnadenlos, aber für den international renommierten Krebsforscher gibt es nichts als die Wahrheit – und das kann man trainieren. Jalid Sehouli hat intensiv nach Leitlinien gesucht, die jeder angehende Arzt, jede Ärztin lernen kann. Denn die meisten Mediziner haben es in ihrer Ausbildung nicht gelernt, sie sind oftmals psychologisch eher nicht oder nicht genügend geschult.
„Eine der schwersten, aber auch wertvollsten Prozeduren im Ärzteleben ist die Übermittlung. Gute Nachrichten sind leicht zu übermitteln, aber wie gehe ich damit um, wenn die Patientin nicht mehr heilbar ist? Da muss ich mich als Arzt positionieren“, sagte Jalid Sehouli im Gespräch mit unserer Autorin. Haltung beweisen, keine Angst vor der Wahrheit zu haben, darauf kommt es dem gebürtigen Berliner an. Die Worte Krebs und Sterben müssen ausgesprochen werden. Trotzdem strahlt der Chefarzt Optimismus und menschliche Wärme aus. Gute Kommunikation ist für ihn für den weiteren Behandlungsprozess zwingend notwendig und sie erleichtert es den Patientinnen, ein schweres Schicksal anzunehmen. Bei allem Einfühlungsvermögen steht für den Arzt aber fest: „Ich muss der Fels in der Brandung sein."
Der Krebsexperte unterstreicht in seinem ersten populärwissenschaftlichen Buch „Von der Kunst, schlechte Nachrichten gut zu überbringen“ nachdrücklich die lebensnotwendige Bedeutung guter Patientengespräche. Seine Gedanken und Leitlinien bieten jedem, der sensible Kommunikationsaufgaben – auch jenseits der Medizin – übernehmen muss, wertvolle Anregungen. Polizei, Feuerwehr, Banker, Pädagogen, Richter, Anwälte … Es gibt unendlich viele Situationen, in denen Menschen anderen Menschen schlechte Botschaften übermitteln müssen. Seine lebensnahen Empfehlungen für die Besprechung existenzieller Situationen verknüpft Jalid Sehouli mit berührenden und dramatischen Geschichten aus seiner ärztlichen Praxis. So verwundert es wenig, dass der Chirurg Gefühle im Klinikalltag für außerordentlich sinnvoll hält.
Geschrieben hat Jalid Sehouli das Buch in nur sechs Monaten, mit dem Thema selbst habe er sich vorher vier Jahre beschäftigt. „Es schließt sich ein Kreis, weil ich gerne schreibe und erzähle. Ich zähle und unterscheide mittlerweile ganz bewusst gute und schlechte Nachrichten. Schlechte Nachrichten bedeuten, die Perspektive auf das Leben verändert sich. Gute Nachrichten, das bedeutet das Zutrauen zu stärken, Orientierung zu geben. Das ist keine Manipulation, sondern stärkt das Selbstbewusstsein“, so Universitätsprofessor Sehouli. Und man muss sich in jedem Fall 15 bis 20 Minuten Zeit nehmen, solange dauert ein Gespräch. Heute noch frage er sich vorher: Bin ich selbst gut vorbereitet? Emotional. Seelisch. Kompetent. „Sonst geht es nicht.“
An der Charité bietet Jalid Sehouli gemeinsam mit einer Kollegin seit 20 Jahren „Breaking-Bad News-Kurse“ für die Ärztekammer an. Notfallmediziner, Gynäkologen, Internisten wird in kleinen Gruppen mit Rollenspielen und gewissenhafter Anleitung vermittelt, wie sie beim Überbringen schlechter Botschaft am besten vorgehen. Es geht um Haltung und Kritikfähigkeit, aber auch darum, die richtigen Worte zu finden, körpersprachlich adäquat zu reagieren und – ganz wichtig – Pausen richtig zu setzen. Und sich zu wappnen: Die Reaktion des Gegenübers kann ein heftiges Kaleidoskop von Gefühlen sein. In seinem Buch fordert Jalid Sehouli viel mehr Kommunikationstrainings in der Aus- und Weiterbildung von Ärzten, wobei sein Credo ist: Die Beziehung zum Patienten ist „das maßgebliche Werkzeug jeglicher Intervention“.
Erster Punkt: Patienten können nur maximal zweieinhalb Minuten zuhören. Dann sieht, hört, riecht und schmecken sie schlechter und die Aufmerksamkeit nimmt rapide ab. Deshalb müssen die Informationen dosiert werden. Gut gemeinte Monologe des Arztes kommen nicht an.
Zweiter Punkt: Der Überbringer einer schlechten Nachricht sollte sein Gegenüber niemals vorher warnen: „Ich habe eine schlechte Nachricht für sie.“ Und Verständnis vorgaukelnde Sätze wie „Ich weiß, wie schwer das für sie ist“ werden vom Gegenüber nicht gut aufgenommen, lösen oft eher heftige Wut aus. Man darf ein schlecht laufendes Gespräch aber auch abbrechen und vertagen, wenn schlechte Nachrichten wie eine Krebsdiagnose nicht gut aufgenommen werden.
Eierstockkrebs ist eine harte Diagnose. Meist unheilbar. Weil der Tumor lange keine Symptome macht, wird er oft erst diagnostiziert, wenn er schon gestreut hat. Knapp 8000 Frauen im Jahr erkranken, drei von vier Patientinnen sterben.
Auf die Frage „Muss ich sterben?“ folgt meist Stille, weiß Jalid Sehouli. Unerfahrene Ärzte halten maximal 16 Sekunden Stille aus, bevor sie antworten. Das Gegenüber braucht aber zwei Sekunden mehr, nämlich 18 Sekunden, um sich zu orientieren, weiß der Autor. Nutzen sie die Kraft der Pause, heißt es in der Checkliste am Ende des Buches. Nichts sagen und sich Zeit lassen sind wichtige Voraussetzungen, um auf Augenhöhe miteinander zu kommunizieren. Erst dann ist das Gegenüber in der Lage zu fragen: Was machen wir nun konkret?
Dem Fachmann ist besonders wichtig: Die betroffene Stille des Gegenübers auszuhalten, ihm Raum zu geben und zu versuchen, Ressourcen zu nutzen. „Natürlich muss ich auch trösten“, sagt der vierfache Familienvater Sehouli. „Hilfreicher ist, konkrete Hilfen anzubieten. Unheilbar krank sein heißt nicht, dass es keine Schmerztherapie oder Verbesserung der Kraft gibt. Also praktische Angebote machen.“ Wenn eine Patientin stirbt, die er lange begleitet hat, weiß er meist, welche Erfüllung sie in ihrer letzten Lebenszeit gefunden hat: „Es war nicht alles umsonst“, davon ist Sehouli überzeugt, der auch schon mal Lyrik, eine letzte Reise oder eine Versöhnung mit fremd gewordenen Geschwistern als Trost empfiehlt.
„Ich nutze meine Sprache, um meine Seele zu artikulieren. Das Schreiben hilft mir, meine eigenen Gedanken zu lesen, zu reflektieren und zu positionieren“, erzählt der Mediziner und nennt den Prozess: „Gedanken mit sich selbst auszutauschen.“ Beim Schreiben tritt Jalid Sehouli in einen Dialog mit sich selbst ein. Hier könne er ganz bei sich sein, fernab vom eng getakteten Klinikalltag positive Kräfte freisetzen. In seinem ersten Buch „Und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo“ (2016) ist er seinen marokkanischen Wurzeln nahegekommen und nutzte das in der Klinik. Er engagierte sich in der Flüchtlingsambulanz, die Charité-Mitarbeiter spontan organisiert hatten, und beschäftigte sich mit der interkulturellen Kompetenz in der medizinischen Versorgung. Nicht nur im Training der Arzt-Patienten-Kommunikation ist Jalid Sehouli Vorreiter: Er hat als einer der Ersten das Schreiben in Deutschland in die Klinik gebracht. Schreiben als exzellente komplementäre Therapie. Weil er weiß, wie stark Schreiben positiv wirken kann.
Seine Eltern kamen 1964 mit ihren ersten beiden Kindern von Marokko nach Berlin, als Jalid noch nicht geboren war. Die Mutter war Analphabetin und verdiente das Geld für die Familie. Als Stationshilfe im Virchow-Klinikum im Wedding putzte sie, teilte das Essen aus, wusch und fütterte die Patienten. „Sie war die Seele der Station“, sagt ihr Sohn, der heute genau in diesem Krankenhaus Professor ist. Sie habe ihm immer Mut gemacht, keinen naiven Mut, sondern einen bescheidenen Mut, wie er es nennt, einen Durchhaltewillen-Mut. Es war ein langer und kein einfacher Weg zu seiner heutigen Position, und wie so oft bei solchen Karrieren, haben auch Glück und Zufall dazu beigetragen. Ein Arzt, der während der Krankenpflegerausbildung sein Dozent war, ist heute Kollege. Jalid Sehouli plädiert für eine Medizin, in der Gefühle, Persönlichkeit, Beziehungen eine Rolle spielen. Als Professor und Klinikdirektor, als Leiter des Europäischen Kompetenzzentrums für Eierstockkrebs kann er sich das erlauben.
Bei allen Fakten steckt in dem lesenswerten Buch viel Herz. Seine Botschaft hat der Krebsspezialist klug, liebevoll und überzeugend verpackt. Keine vehemente Anklage der Missstände, sondern der Autor zeigt Schritte auf, wie die Situation zu verbessern ist. Deutlich wird, dass es Jalid Sehouli auch um die Mündigkeit der Patienten geht. Der Arzt und sein Gegenüber – da begegnen sich für den Forscher zwei Menschen und nicht ein „Halbgott in Weiß“ und ein sterbenskranker Patient. Für Jalid Sehouli ist das kein Widerspruch zur analytischen Wissenschaft. Es hat ihn überrascht, wie viel Ärzte mittlerweile genauso denken. Die Gesellschaft muss seiner Meinung nach fordern, dass die Ökonomisierung der Medizin gestoppt wird. „Das ist doch kein Disneyland, nach dem Motto, bezahlt wird nur, was sein muss und wenn es sich lohnt.“ Dafür liefert Sehouli – neben vielen Themen, Hintergründen und Problemen – sehr gute Argumente.
Buch-Tipps:
Jalid Sehouli, Marrakesch, bebra verlag 2018
Jalid Sehouli, Und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo, bebra verlag 2016
Arbeitswelt
Krankenhaus digital: Tue Gutes und whatsappe darüber!
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Social Media: Das kommt auf Kliniken zu
Pflege
CareSlam: Wenn Pflege-Profis auf die Bühne gehen
Bildung
Personalisiertes Lernen: Herr Lehrer ist jetzt digital
Ehrenamt
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Gesundheit
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Gesellschaft
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Jalid Sehouli: Von der Kunst, schlechte Nachrichten gut zu überbringen
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