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Westend Verlag, Frankfurt 2019, 18 Euro
Wir müssen oft warten: auf die Bahn, auf verspätete Freunde, auf einen Impfstoff, auf den nächsten Urlaub, auf die große Liebe. Oder auf eine Gehaltserhöhung. Das ist jedes Mal eine Bewährungsprobe, denn heute ist eines selten geworden: Zeit haben. Und die Pandemie stellt die Geduld noch zusätzlich auf eine harte Probe. Doch es könnte sich durchaus lohnen, die Kunst des Wartens wieder zu erlernen. „Denn was wir beim Warten zu spüren bekommen, ist die Fremdbestimmtheit unseres Lebens“, erklärt Timo Reuter in seinem Buch „Warten. Eine verlernte Kunst“.
Im Grunde mag es keiner gerne zu warten. Ausgenommen das Warten auf den Liebsten oder die Vorfreude auf die erwartete Geburt eines Kindes. Vorfreude ist die schönste Freude, wie wahr. Ansonsten gilt das Warten oft als vergeudete Zeit. Gewartet wird meistens nicht aus freien Stücken, sondern weil wir dazu gezwungen sind. „Sofort“ und „jetzt gleich“ heißen die neuen Zauberwörter und dank des mobilen Internets wird auch noch die letzte Pause genutzt, um einen wichtigen Tweet abzusetzen. Wartezeit gilt als verlorene Zeit. Es macht ungeduldig und nervös, wenn man es nicht schafft, sie „sinnvoll“ zu nutzen. Timo Reuter ist sich sicher: Wer wartet, fühlt sich ohnmächtig. Warten beraubt einen der Illusion, die eigene Lebensgeschichte jederzeit steuern und beeinflussen zu können.
„Das Warten lässt sich als Kränkung des modernen Menschen verstehen“, schreibt der Autor. „Und Covid-19 ist entsprechend eine massive kollektive Kränkung für unser Ego, fast schon ein Affront“, sagt Timo Reuter im Magazin „Spiegel“: „Behördlich angeordneten Beschränkungen verändern das Wesen des Wartens massiv: Es bekommt eine existenziellere Komponente.“ Damit verändert sich für den Autor die Qualität der Vorfreude, die er normalerweise schätzt. Das Warten auf einen Impfstoff oder auf Lockerungen ist während der Pandemie zu einer Art Dauerzustand geworden, den wir „nicht aus eigener Kraft verkürzen“ können. Wir glauben, alles unter Kontrolle zu haben. Nun erfahren wir das Gegenteil. Andere schreiben jetzt die Pläne für uns. Wir müssen nun auf viel mehr warten, als uns lieb ist.“ Die Krux: Stillstand ist im digitalen Leben gar nicht vorgesehen.
Man kann versuchen, auch die guten Seiten zu sehen. Pausen, wie an der roten Ampel oder in der Kasse am Supermarkt bergen für den Autor die Chance, innezuhalten und zu entschleunigen. Warten ist zudem immer auch ein Zustand, der nach seiner eigenen Abschaffung strebt. Wer wartet, der erwartet etwas. Wer früher einen Brief schrieb, wartete mitunter Wochen auf eine Antwort. Heute kaum noch vorstellbar. Spätestens seit der Industrialisierung habe das Diktat der Uhr das gesamte gesellschaftliche Leben erfasst, so Timo Reuter. Auf dem Smartphone gibt es im WhatsApp-Chat Antworten im Sekundentakt. Der „digitale Sofortismus“ zum Beispiel in den sozialen Netzwerken führe zu völlig übertriebenen Ansprüchen. Jede Information, jede Antwort ist nur wenige Klicks entfernt, Warten gilt als „uncool“ und „bedauernswert“. „Die Wartezeit ist kürzer geworden, aber die Ungeduld größer“, schreibt der Autor. „Wir sind alle Kinder unserer schnellen Zeit, mit immer mehr Terminen.“
Wartezeiten sind in unserer Gesellschaft für den Buchautor sehr ungleich verteilt. Dazu gibt es drei Faktoren, erzählt er auf WDR 5 in „Die Kunst des Wartens“: Menschen mit Geld warten grundsätzlich nicht. Wartezeiten werden an VIP-Schaltern oder für Privatpatienten verkürzt. Privilegiert sind diejenigen, die alles ohne Verzögerung bekommen. Der zweite Faktor sei das Geschlecht: „Frauen warten seit jeher länger als Männer.“ Bis heute warten Frauen auf gleiche Bezahlung oder auf Teilhabe. Und seit in der griechischen Mythologie Penelope auf ihren Ehemann Odysseus gewartet hat, bis er von seiner Irrfahrt heimkehrte, gilt das Warten „als Zeichen der weiblichen Liebe“. Der dritte Faktor sei Rassismus: „Wer mit dem richtigen Pass geboren wurde, müsse nie auf die Ausländerbehörde stundenlang warten.“
Jemanden warten lassen, gilt per se als unhöflich. Die Frage, wer auf wen warten muss, ist für den Autor stets auch eine Frage von Macht, Politik und Privilegien. Im alten Ägypten mussten Boten manchmal jahrelang an fremden Herrscherhöfen warten, manche sind dabei gestorben, schreibt er. „Die Möglichkeit, andere hinzuhalten, die entsteht nicht einfach so im luftleeren Raum. Sie ist Resultat von Privilegien und von Machtverhältnissen“, sagt Timo Reuter auf WDR 5.“
Timo Reuter, der in Marburg und Frankfurt Philosophie und Mathematik studiert hat, arbeitet für verschiedene renommierte Tages- und Wochenzeitungen. Vor vier Jahren veröffentlichte er seine „philosophischen Argumente für mehr Gerechtigkeit“ in dem Buch „Das bedingungslose Grundeinkommen als liberaler Entwurf“.
Überraschenderweise war Warten früher sogar mal positiv besetzt. Die Gebrüder Grimm schrieben dem „Warten“ in ihrem Wörterbuch heute fast vergessene Bedeutungen zu, so Reuter: „Warten hieß auch Ausschau halten und aufpassen. Wir kennen das heute noch vom Wärter.“ Und es hieß zu dienen: Daraus resultieren etwas förmliche Floskeln wie seine ‚Aufwartung‘ machen. Spannend erläutert Timo Reuter, dass zu warten auch zu pflegen bedeutet: „Früher hat man Menschen gewartet, heute warten wir nur noch Maschinen, weil das Warten so sehr in Verruf geraten ist.“
„Verschwende deine Zeit, wenn du zu wenig davon hast“, schreibt Timo Reuter. Und plädiert dafür, Wartezeit als geschenkte Zeit zu betrachten – als freie Zeit und als wahre Form der Freizeit. Seiner Meinung nach geht Gelassenheit und Vorfreude verloren, wer die Kunst des Wartens nicht beherrscht. „Es ist natürlich erst mal ein Zustand der Leere, aber aus dieser Leere heraus erwächst auch etwas. Zuallererst die Selbstreflexion: Was mache ich überhaupt mit meiner Zeit? Will ich sie wirklich immer mit Geld verrechnen? Oder einfach nur mal da sein, wo ich gerade bin?“, erläutert der Journalist im Deutschlandfunk (DLF), weshalb unverhoffte Pausen ein Geschenk sind. Als Martin Luther sich fast ein Jahr lang auf der Wartburg verstecken musste und die Langeweile ihn zermürbte, übersetzte er die Bibel ins Deutsche. „Nur wer warten kann, ohne sich gleich darüber zu ärgern, für den öffnet sich das Tor zur Muße, zur Kreativität – und zu unseren Mitmenschen“, notiert Timo Reuter im „Focus“.
Für den Philosophen gehört die Vorfreude unbedingt zum Glück des Wartenden. Diese Vorfreude auf Regen in einem heißen Sommer ist für den Philosophen bedroht, wenn immer alles sofort verfügbar sein muss. Dabei liegt für den Autor das Glück gerade nicht darin, alles sofort zu bekommen, sondern im Warten. Der Journalist betrachtet das Warten als Sandkorn im Getriebe der modernen pausenlosen Verwertungsmaschinerie und empfiehlt als Gegenstück zu den allgegenwärtigen To-do-Listen besser „Let-it-be-Listen“ zu erstellen: Detaillierte Aufstellungen, was wir uns ausdrücklich vornehmen, nicht zu tun – um den Zauber der unverplanten Zeit zu entdecken.
Der Journalist aus Frankfurt beleuchtet die soziologischen Aspekte des Wartens. Er fragt nach dem beschleunigten Zeitempfinden und plädiert vehement und vielfältig für eine andere Wartekultur, wie er es nennt. Dazu gehört auch Zufriedenheit, anstatt ständig auf ein besseres Leben zu warten. Für Timo Reuter macht es Sinn, das gelassene Warten wieder zu erlernen, weil es viel Lebensqualität zurückbringt - und zufriedener macht. Anhand zahlreicher Quellen der europäischen Sozial- und Literaturgeschichte rekonstruiert der Autor, wie das moderne Zeitgefühl entstanden ist. Und belegt: Zu allen Zeiten war es möglich, das kleine Glück des Wartens zu finden, wie er es nennt. Es macht Spaß, sich während des Lesens gedanklich zu öffnen, das Warten mehr sein kann, als nur eine anachronistische, lästige Angelegenheit. Warten ist keine verlorene Zeit, sondern geschenkte Lebenszeit zum Innehalten.
Weitere Informationen:
„Covid-19 ist eine massive Kränkung für unser Ego", Spiegel online, 08.04.2020 (abgerufen am 13.08.2020)
Die Kunst des Wartens, WDR 5, Neugier genügt, 27.02.2020 (abgerufen am 13.08.2020)
Warten macht glücklich – Plädoyer für eine verlernte Kunst, SWR2, 16.07.2020 (abgerufen am 13.08.2020)
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