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Die Sozial- und Gesundheitswirtschaft hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Deutschland bisher gut durch die Coronakrise gekommen ist. Allerdings sind die großen Herausforderungen der vergangenen Monate an der Branche selbst nicht spurlos vorbeigegangen, außerdem hält die Pandemie an. Eine großangelegte Erhebung der Bank für Sozialwirtschaft (BFS) zeichnet ein genaues Bild: Welche Belastungen rollen in der Corona-Pandemie auf die Einrichtungen zu? Wie können Refinanzierungslücken geschlossen und Modernisierungsimpulse gesetzt werden? Die Trendinfo-Redaktion sprach darüber mit Britta Klemm, Leiterin des Kompetenzzentrums Sozialwirtschaft der BFS Service GmbH.
Britta Klemm: Die Corona-Krise wird immense wirtschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen. Wenig bekannt war allerdings bisher darüber, mit welchen konkreten wirtschaftlichen Auswirkungen das Sozial- und Gesundheitswesen rechnen muss. Bisherige Umfragen bezogen sich auf einzelne Geschäftsfelder und waren nicht repräsentativ. Deshalb haben wir uns gemeinsam mit den Verbänden zur Durchführung der bundesweit ersten Umfrage entschieden, die alle Branchen des Sozial- und Gesundheitswesens einbezieht. Rund 1.000 Teilnehmer*innen haben sich beteiligt.
Neben den akuten Herausforderungen interessierte uns auch die perspektivische Einschätzung der Akteure: Wie wird es im Sozial- und Gesundheitswesen und der Freien Wohlfahrtspflege nach der Corona-Krise weitergehen?
Die Umfrage macht eine enorme Unsicherheit der Träger hinsichtlich ihrer künftigen wirtschaftlichen Situation deutlich. Angesichts der umfangreichen staatlichen Schutzpakete für das Sozial- und Gesundheitswesen und der tendenziellen Krisenresistenz unserer Kundenbranchen hat uns das Ausmaß der Skepsis überrascht. Zu den Herausforderungen zählen u.a. nicht kompensierte Einnahmeausfälle, eine drohende Rückforderung von geleisteten Ausgleichszahlungen sowie Probleme beim Zugang zu bestimmten Hilfsprogrammen. Hieraus ergeben sich vielfältige politische Handlungsbedarfe.
Rund 80 Prozent der befragten Organisationen erwarten im laufenden Jahr eine negative Abweichung von den Planzahlen für ihre Gewinn- und Verlustrechnung. Diese wird mehrheitlich auf fünf bis zehn Prozent veranschlagt. Knapp ein Fünftel befürchtet sogar eine Unterschreitung des geplanten Betriebsergebnisses um mehr als 20 Prozent.
Am stärksten betroffen ist die Tagespflege, bei der über zwei Drittel der Befragten eine Verschlechterung angegeben haben. Auch die ambulanten Pflegedienste, die Kinder- und Jugendhilfe und die stationäre Pflege sind häufig mit einem Auslastungsrückgang konfrontiert. Deutlich weniger betroffen sind hingegen Einrichtungen des Betreuten Wohnens für Senioren sowie ambulant betreute Wohngemeinschaften. In diesen beiden Segmenten berichten 67 bzw. 44 Prozent von einer unveränderten Inanspruchnahme.
Für ein Viertel der befragten Personen gehören bedeutende Personalengpässe zu den wesentlichen coronabedingten Herausforderungen. Dementsprechend wird der größte Unterstützungsbedarf in der qualifizierten Personalgewinnung und der Personalentwicklung gesehen, noch vor der Beschaffung von Schutzkleidung. Zudem gehen etwa 60 Prozent davon aus, dass der Fachkräftebedarf durch die COVID-19-Pandemie weiter zunehmen wird.
Tatsächlich könnte diese Erfahrung zu einer allgemeinen Aufwertung des Pflegeberufes und anderer sozialer Berufsfelder beitragen. Deshalb ist es denkbar, dass in Zeiten unsicherer Wirtschaftslagen die Berufe in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft als weitgehend krisensichere und zukunftsweisende Arbeitsplätze wieder stärker nachgefragt werden. Vor allem solche sozialen Organisationen könnten gestärkt aus der Krise hervorgehen, die es schaffen, zeitnah die Möglichkeiten zu nutzen und sich als attraktiver Arbeitgeber zu positionieren.
Die bereits zum Zeitpunkt der Befragung aufgetretenen Einnahmeausfälle, die nicht durch Schutzpakete des Bundes und der Länder kompensiert werden, bewegen sich zumeist zwischen fünf und 20 Prozent. Knapp zwölf Prozent der Befragten beziffern die Defizite auf über 30 Prozent. Insgesamt ist rund die Hälfte der sozialen Organisationen in unterschiedlichem Maße von Deckungslücken betroffen. Für den weiteren Verlauf der Krise erwarten über die Hälfte der Befragten entsprechende Refinanzierungslücken.
Bei den Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen stehen vor allem das Kurzarbeitergeld, die Unterstützungsleistungen aus dem COVID-19-Krankenhausentlastungsgesetz und den Sozialschutz-Paketen sowie die verschiedenen Programme auf Länderebene im Fokus. Zum Zeitpunkt der Befragung haben zwischen rund 45 und 52 Prozent der Teilnehmenden die jeweiligen Hilfen bereits beantragt oder dies geplant.
Bisher kaum in Anspruch genommen werden dagegen die Kredit-, Liquiditäts- und Bürgschaftsprogramme der KfW sowie von Landesförderinstituten und Geschäftsbanken. Vor dem Hintergrund, dass ca. zwei Drittel der Teilnehmenden davon ausgehen, dass sich durch die Pandemie ihre Liquidität verringern wird, ist dieser Befund bedenklich. Wir führen ihn nicht zuletzt auf den Umstand zurück, dass gemeinnützige Organisationen, die in der Umfrage ja stark vertreten waren, von vielen Hilfsprogrammen bisher ausgeschlossen waren. Deshalb hat sich die Bank für Sozialwirtschaft maßgeblich und letztlich erfolgreich dafür eingesetzt, dass die Politik weitere Unterstützungsprogramme speziell für die freigemeinnützigen Träger auf den Weg bringt. So fand ein Kreditsonderprogramm zur Stärkung der Liquiditätssituation und Finanzierungsfähigkeit der gemeinnützigen Organisationen Eingang in das im Juni beschlossene Corona-Konjunkturpaket der Bundesregierung.
Mit über 60 Prozent sieht ein Großteil der Befragten insbesondere in der Bewältigung des zusätzlichen Bürokratie- und Dokumentationsaufwandes eine zentrale Herausforderung – folglich wünschen sich viele eine Fördermittelberatung. Im Zusammenhang mit Kredit- und Bürgschaftsprogrammen ist erneut die große Bedeutung von schlüssigen Prognoserechnungen und einem professionellen Finanzcontrolling zutage getreten. Auch eine rückständige Digitalisierung der Prozesse erweist sich in vielen Bereichen als Hürde. Dies sind zumindest mittelfristig entscheidende Handlungsfelder.
Die Umfrageergebnisse legen das nah. Etwa 60 Prozent der Befragten erwarten, dass das Entstehen von größeren Unternehmenseinheiten unter anderem durch Übernahmen infolge der Pandemie mäßig bis stark an Dynamik gewinnen wird. Je nach Dauer und Verlauf der Krise ist eine weitere Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation in den Betrieben und in der Folge eine spürbare Verschärfung des Konsolidierungsdrucks in den Branchen nicht auszuschließen.
Über die schon angesprochenen Handlungsfelder hinaus hat die Corona-Krise bei einem erheblichen Teil der Sozial- und Gesundheitsimmobilien unzureichende bauliche Strukturen für eine bestmögliche Versorgung bei Pandemien aufgedeckt. So fehlt es unter anderem an Aufenthaltsbereichen, Hygieneschleusen und trennbaren Gebäudeabschnitten, um in der Pandemielage mit den erhöhten Hygienestandards flexibel agieren zu können. Die entsprechenden Anpassungen der Gebäudeinfrastrukturen erhöhen den Investitionsbedarf zusätzlich zu den schon bestehenden Investitionsanlässen.
Deutlich wurde zudem, dass die wirtschaftlichen Sicherheitspuffer der sozialen Organisationen größer werden müssen. Dies setzt kostendeckende Entgelte inklusive angemessener Risikomargen voraus. Zudem ergeben sich aus den Erfahrungen mit der Pandemie starke Argumente für die Zulässigkeit höherer Rücklagen bei gemeinnützigen Trägern.
Zusätzlich zur generellen Leistungsfähigkeit der IT-Ausstattung stehen vor allem webbasierte Anwendungsformate im Fokus. Beispielsweise spielen für fast 90 Prozent der befragten Personen digitale Bildungsplattformen wie E-Learning eine entscheidende Rolle. Breite Zustimmung finden darüber hinaus digitale Unterstützungsangebote zum Beispiel in Form von Apps und Online-Beratung. Relevant sind zudem ein organisationseigenes Intranet, telemedizinische Anwendungen sowie Onlinevermittlungsplattformen und -portale.
Neben der Bewältigung des allgegenwärtigen Personalmangels wurde deutlich, dass die Schaffung von finanziellen, personellen und technischen Voraussetzungen sowie der Aufbau von Kompetenzen für die Digitalisierung entscheidende Zukunftsthemen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft sind.
Die Studie basiert auf einer Online-Umfrage, die zwischen dem 15. Mai und 15. Juni 2020 von der Bank für Sozialwirtschaft gemeinsam mit den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege, dem Deutschen Verein und dem Bundesverband privater Anbieter (BPA) durchführt wurde. Zielgruppe sind Geschäftsführer und Vorstände von Trägern und Einrichtungen aus allen Leistungsfeldern des Sozial- und Gesundheitswesens sowie der Freien Wohlfahrtspflege.
Zu den Studienergebnissen im Detail:
Bank für Sozialwirtschaft (Hg.), Befragung zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Sozial- und Gesundheitswesen, Köln, Juli 2020, 37 Seiten
Download
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