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Die Corona-Pandemie katapultierte Pflegeeinrichtungen in den Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit: Infektionsschutz, Kontaktverbot, Sterbebegleitung, das alles war plötzlich Thema der abendlichen Hauptnachrichten. Und natürlich die extreme Belastung für das erklärtermaßen systemrelevante Pflegepersonal. Ein Forscherteam der Universität Köln wollte es genauer wissen und fragte direkt bei Leitungskräften in der Pflege nach: Wie schlimm war es wirklich – ganz normaler Wahnsinn oder noch ein bisschen mehr?
Im Detail geht es um Art und Ausmaß pflegerischer Belastungen, um die Versorgungsqualität generell und während der aktuellen Krise sowie um zukunftsgerichtete Bewältigungsstrategien. Zur Klärung dieser Fragen führte das Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationsforschung der Universität zu Köln (IMVR) im April eine Onlinebefragung durch. 525 Leitungspersonen aus ambulanten Pflege- und Hospizdiensten sowie stationären Pflegeinrichtungen und Hospizen nahmen teil.
Die Sorge vor Covid-19-Infektionen bei ihren Pflegebedürftigen ist laut Studie mit 99 Prozent die größte Herausforderung für das Personal und wird von mehr als 70 Prozent der Führungskräfte als stark und sehr stark belastend empfunden. Die Sorge gilt dem Wohlbefinden der Pflegebedürftigen angesichts von Einsamkeit, dem Fehlen menschlicher Nähe und wegfallender Therapien. Hinzu kommt die Unsicherheit über notwendige Schritte und drohende Konsequenzen im Falle einer Infektion. Diese Unsicherheit äußert sich vor allem in Einrichtungen, die Personen mit kognitiver Beeinträchtigung betreuen.
Fast gleichauf rangiert die Befürchtung, dass sich Mitarbeitende anstecken könnten (knapp 99 %). Die Sorge resultiert u. a. aus den drohenden Konsequenzen: aufwendige Schutzmaßnahmen, eine Betriebsschließung oder der Verlust des Arbeitsplatzes. Die angesprochenen Führungskräfte gaben an, mit intensiver Aufklärung gegenzusteuern. „Die Sorge vor einer Ansteckung und die Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Schutzmaßnahmen erscheinen insbesondere in den ambulanten Diensten hoch.“
Auch die eingeschränkten Möglichkeiten einer Testung auf Covid-19 bereitet erhebliche Sorge (70 %). Die Führungskräfte wünschen sich Tests und bemängeln, dass es selbst bei Verdachtsfällen unter den Beschäftigten keine systematische Testung gibt. Auch für Pflegebedürftige, die neu oder wieder in die Einrichtung aufgenommen werden, besteht keine ausreichende Testkapazität. Zusätzliche Schutzmaßnahmen erschweren die Arbeit.
Die Widersprüchlichkeit und Intransparenz wichtiger Informationen ist für sehr viele Leitungspersonen (89 %) eine große Herausforderung. „Informationen von Seiten der Länder, Bund, Kommunen, der Ärzte, Gesundheitsämter sind teils sehr umfassend, verwirrend und gegensätzlich“, heißt es. Daraus resultiert zusätzlicher Aufwand in ohnehin stressiger Zeit: Die ständige Informationsflut muss erst einmal verarbeitet werden, dann gilt es, daraus Entscheidungen abzuleiten.
Drohende und tatsächliche Einnahmeausfälle sind Anlass zu großer Sorge (90 %). Besonders im ambulanten Bereich macht sich eine zurückgehende Nachfrage nach Betreuungs- und Hauswirtschaftsleistungen bemerkbar, Vertragskündigungen führen zu Kurzarbeit. Einige Betriebe sehen ihre Existenz bedroht. Ausbleibende Spendengelder und Nothilfen sowie unterlassene Öffentlichkeitsarbeit rühren an Existenzsorgen. Der geschaffene Pflegerettungsschirm könne die Umsatzeinbußen nicht auffangen, ergab die Befragung
Der Pflegebereich sieht sich von geringer Honorierung bei gestiegener Anspruchshaltung konfrontiert, so das Meinungsbild. Typische Aussagen drücken das so aus: „Wir werden schlecht bezahlt, wir werden zu spät bezahlt und sollen tolle Arbeitsbedingungen schaffen und höhere Löhne zahlen.“ Oder: „Unser Beruf ist so etwas von schlecht bezahlt, dass es ein Wunder ist, dass unser Pflegesystem noch lebt!!!!“ Deutlich wird, dass Arbeitsverdichtung und Überlastung bereits vor der Pandemie bestanden haben. Derzeit erscheinen Leitungskräfte 20 Prozent häufiger als vor Pandemieausbruch krank bei der Arbeit. Die Forderungen laufen auf eine leistungsgerechte Vergütung und reelle Refinanzierung von Aufwendungen hinaus – auch und gerade angesichts des Mehraufwands durch die Corona-Pandemie.
Zahlreiche weitere Aspekte geben ein detailreiches Bild von Meinungen und Befindlichkeiten in der Pflegebranche. So wurde zum Beispiel nach der hausärztlichen Versorgung der Pflegebedürftigen gefragt, nach Personalausfall, nach der Einhaltung des Kontaktverbots für Angehörige und nach internen Organisationserfordernissen im Gefolge der Corona-Krise.
Die Erhebung förderte jedoch nicht nur Sorgen und Belastungen zutage. Die befragten Leitungskräfte benannten auch Schlüsselfaktoren der Krisenbewältigung. Es wurde deutlich, dass offene Information und Kommunikation gegenüber Pflegebedürftigen, ihren Angehörigen und Mitarbeitenden Missverständnissen vorbeugt und Vertrauen schafft. Eine sehr ermutigende Erfahrung: Der soziale Zusammenhalt in den ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen erwies sich als eine der stärksten Ressourcen in Coronazeiten. „In Anbetracht knapper finanzieller und personeller Ressourcen gewinnen gegenseitiges Miteinander, Unterstützung und Vertrauen an Bedeutung“, schlussfolgern die Studienautor*innen.
Pflegerische Versorgung in Zeiten von Corona – Drohender Systemkollaps oder „normaler Wahnsinn“? Wissenschaftliche Studie zu Herausforderungen und Belastungen aus der Sichtweise von Leitungskräften, Köln 2020, 42 Seiten
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