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Rückblickend erscheint es eine Ewigkeit her, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung dem Regierungskurs in den ersten Lockdown folgte. Dabei war das erst vor einem Jahr. Stattdessen wächst seit Monaten die Kritik am Corona-Management von Bund und Ländern. Impfchaos, Testwirrwarr, inkonsequente Öffnungsstrategie, so tönt ein vielstimmiger Chor des Zweifels und der Ablehnung. Was genau bestimmt die Sicht der Menschen auf die Corona-Krise? Es sind Haltungen oder Wertemilieus, keine sozial klar identifizierbaren Interessen, wie wir es von anderen gesellschaftlichen Konflikten kennen. Diese zentrale These bestimmt auch konsequent die Empfehlungen für einen erfolgreichen Ausweg aus der Krise.
Die Studie beruht auf einer Online-Befragung von 1.100 Personen Ende November 2020 im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Sie unterscheidet folgende sieben Wertemilieus, die etwa gleich stark und quer durch die Gesellschaft in allen Alters-, Bildungs- und Einkommensschichten vertreten seien, sagt Forscherin Dr. Yasemin El-Menouar:
Die klassische Unterscheidung dieser Gruppierungen nach sozioökonomischen Merkmalen wie Bildungsgrad und Einkommen greift hier nicht. Deutliche Unterschiede bestehen laut Studie vielmehr im gesellschaftlichen Umgang mit der Corona-Pandemie. „Diese Differenzen betreffen etwa die Bewertung von Eingriffen in die Freiheitsrechte, die Relevanz von wirtschaftlichen Folgen oder die Auswirkungen des Virus auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, schreibt die Autorin. Das coronabedingte Wertespektrum spiegelt sich folgerichtig im Studientitel wider: „Zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl“.
Die Milieuunterschiede werden an der Haltung zu den Freiheitsrechten deutlich. Das eine Extrem bilden die Humanist*innen. Sie verteidigen Ideale wie Gleichheit und Pluralität und sind vom Vorrang des Lebensschutzes und von der Zweckmäßigkeit der pandemiebedingten Einschränkungen überzeugt.
Auf der anderen Seite des Wertespektrums stehen die leistungsorientierten Macher*innen und die Materialisten. Beide lehnen Eingriffe in die Freiheitsrechte ab. Den Leistungsorientierten sind Erfolge und Anerkennung wichtig. Freiheitseinschränkungen zur Pandemiebekämpfung werden von etwa der Hälfte dieser Gruppierung „voll und ganz“ (19 %) oder „eher“ (26 %) abgelehnt.
Noch klarer votieren die Materialisten gegen das, was sie als Beschneidung individueller Freiheiten wahrnehmen. Persönliche Autonomie, Konsum und Wohlstand sind ihnen wichtig. Fast jeder Vierte (24 %) spricht sich rundweg gegen Corona-Beschränkungen aus, mehr als ein Drittel (36 %) tendiert zur Ablehnung.
Ähnlich stehen die Wertemilieus zur Corona-Impfung: Drei Viertel der Humanist*innen bejahen die Impfung. Hingegen 44 Prozent der Leistungsorientierten und 40 Prozent der Materialist*innen wollen sich keinesfalls impfen lassen.
Trotz aller Gemeinsamkeiten – bei der Frage nach den gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie driftet die Allianz der Corona-Maßnahmenkritiker auseinander: Mehr als die Hälfte der leistungsorientierten Macher*innen (57 %) schreibt der Coronakrise auch positive Wirkungen zu, etwa in puncto Klimaschutz und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Dagegen teilt nur ein Viertel der wohlstandsorientierten Materialist*innen diesen Optimismus. Dazwischen liegen die Selbstverwirklicher*innen und die Beziehungsmenschen (jeweils 51 %).
Insgesamt 45 Prozent der Befragten aller Wertemilieus setzen auf die Coronakrise als Chance für einen positiven gesellschaftlichen Wandel, 80 Prozent stufen Veränderungen als wichtig ein. Zugleich verschärfe die Corona-Krise auch Wertekonflikte, die zuvor schon schwelten, stellt die Untersuchung fest.
Was ist also in dieser unübersichtlichen Situation zu tun? Es komme darauf an, die unterschiedlichen Sichtweisen in die Pandemiebewältigung und die Gestaltung des Wandels einzubeziehen. „Dabei geht es zunächst weniger darum, einen umfassenden Konsens zu finden, als darum, die Vielfalt von Werthaltungen sichtbar zu machen und ihre Berechtigung anzuerkennen“, heißt es.
Besonderes Augenmerk müsse Positionen zukommen, die sich im öffentlichen Diskurs weniger gut repräsentiert oder sogar in eine negativ besetzte Rolle gedrängt sähen, meint die Autorin. Ansonsten könne der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet sein. Vor allem die Positionen der Leistungsorientierten und Materialist*innen seien stärker einzubeziehen.
Gerade die Leistungsbereiten mit ihrer in der Regel ausgeprägten unternehmerische Einstellung gelte es besonders zu würdigen, denn „spätestens, wenn es darum geht, den Weg aus der Pandemie heraus zu gestalten, werden sie dringend gebraucht.“
Ähnlich verhalte es sich mit den Materialist*innen. Ihre Einbeziehung in den Dialog sei wegen ihrer wenig gemeinwohlorientierten Haltung schwierig, aber notwendig. Die Neigung der Befragten dieser Gruppierung zur AfD sei zwar hoch, dennoch bestehe im Wunsch nach Beendigung der Freiheitseinschränkungen und Rückkehr in ein normales Leben eine Schnittmenge mit anderen Milieus.
Die Untersuchung beschreibt die Corona-Pandemie als tiefe gesellschaftliche Krise, für die es keine einfachen Lösungen gebe. Ein pluralistisches Land sei hier auf andere Weise gefordert als ein autoritärer Staat wie China. Hierzulande gehe es nicht allein um eine konsequente Senkung der Infektionszahlen, sondern auch darum, unsere offene demokratische Kultur durch ein relativ unbekanntes Terrain voller Klippen und Abgründe zu manövrieren. „Das kann die Politik nicht allein leisten, das ist eine gesellschaftliche Aufgabe und umso wichtiger ist es, hier alle mitzunehmen und einzubeziehen“, empfiehlt die Autorin als Konsequenz aus der Analyse der unterschiedlichen Wertemilieus.
Yasemin El-Menouar, Zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl. Sieben Wertemilieus und ihre Sicht auf Corona, Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), 1. Auflage 2021, 40 Seiten, Download
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