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Wer zum Arzt geht, möchte gut behandelt werden: nicht zu viel und nicht zu wenig, sondern richtig. Herauszufinden, was genau das ist, gelingt nicht immer. Das zeigt sich am erheblichen Umfang unnötiger medizinische Leistungen im deutschen Gesundheitssystem. Bis zu 30 Prozent aller Medikamente, Untersuchungen und Operationen seien rein medizinisch nicht zwingend nötig, stellt das Berliner Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) für die Bertelsmann-Stiftung fest. Genauer gefasst: Nicht nur unnötig und kostspielig, sondern mitunter schädlich für die Patienten. „Viel hilft viel“, diese Redensart ist auch in der Medizin meist falsch.
Die Bertelsmann-Studie „Überversorgung – eine Spurensuche“ beschreibt Ursachen, Einflussfaktoren und Lösungsansätze. Eine ergänzende Publikation stellt die Ergebnisse von Tiefeninterviews mit 24 Patienten und 15 Ärzten durch das Rheingold Institut vor. Darin geht es um die Wahrnehmung medizinischer Überversorgung durch Vertreter beider Seiten. Die Antworten zeigen, wie vielschichtig, ja widersprüchlich und strittig das Thema im Praxisalltag ist. Einige Beispiele:
Überversorgung liegt vor, wenn Untersuchungen, Operationen, Therapien und Arzneimittel keinen gesicherten Nutzen haben. Dafür liefert die Studie gründlich analysierte Beispiele. So werden 70.000 Schilddrüsen-OPs pro Jahr durchgeführt, obwohl nur bei zehn Prozent der Eingriffe ein bösartiger Befund vorliegt. „Mit einer besseren Diagnostik könnten viele dieser Operationen vermieden werden“, führt die Studie aus. 70 Prozent der Magensäureblocker, die hierzulande zu den am häufigsten eingenommenen Arzneimitteln gehören, werden ohne präzise Indikation verschrieben.
Weitere exemplarische Bereiche für eine – teils auch im internationalen Vergleich – erhebliche Überversorgung sind die bildgebende Diagnostik bei unspezifischen Rückenschmerzen, Ultraschalluntersuchungen der Eierstöcke (= Individuelle Gesundheitsleistung, IGeL), Schilddrüsen-OPs, Implantationen von Kardioverter-Defibrillatoren und die Versorgung am Lebensende.
Bei der Suche nach den Ursachen für Überversorgung stößt die Studie auf ein ganzes Erklärungsbündel. Da sind zum einen tief verankerte Einstellungen bei Patienten und Ärzten, wie sie schon in den oben genannten Zitaten deutlich werden. Interessanterweise ist einer Mehrheit der Bevölkerung (55 %) zwar bewusst, dass Untersuchungen und Behandlungen oft überflüssig sind. Allerdings sieht kaum jemand das Problem bei sich selbst. Hinzu kommt: Ungewissheit sei nur schwer auszuhalten, sagen beide Seiten übereinstimmend. „So hält sich der Glaube, es sei immer besser zu handeln als abzuwarten oder gar nichts zu tun. Wachsames Beobachten fällt schwer, obwohl es oftmals angebracht wäre“, moniert die Studie. Erwartungsdruck und Sicherheitsdenken treiben Patienten und Ärzte dann auf dieselbe Weise an: Lieber nichts unentdeckt und unversucht lassen!
Neben diesen Denk- und Verhaltensmustern der Akteure wirken Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems als wesentliche Treiber von Überversorgung. Allen voran das Nebeneinander von ambulanten und zu vielen stationären Versorgungsstrukturen, heißt es in dem Report. „Aber auch die Art, wie Medizin in Deutschland gelehrt, geleistet und vergütet wird. So wird selbst falsches Handeln vergütet, nicht aber korrektes Unterlassen.“ Dagegen müssten die Arzt-Patienten-Kommunikation stärker in den Lehrplänen berücksichtigt und das Patientengespräch in der Honorarordnung aufgewertet werden.
Für die Studienmacher ist klar: „Die Diskussion über die Problematik von Überversorgung und wirkungsvollen Lösungsstrategien ist international in Gang gekommen“ – auch in der Ärzteschaft. Politik und Selbstverwaltung hierzulande könnten einen beispielgebenden Beitrag leisten, indem sie die Vergütung stärker an evidenzbasierten Leitlinien ausrichten und kompetente Entscheidungshilfen für Ärzte und Patienten bereitstellen. Nützliche Impulse erhoffen sich die Forscher von „Choosing Wisely“ („Gemeinsam klug entscheiden“). Diese bereits in 20 Ländern aktive Ärzte-Initiative setzt sich für mehr professionelles Engagement gegen Überversorgung ein, etwa durch die Zusammenarbeit mit medizinischen Fachgesellschaften, um zweifelhafte medizinische Leistungen aus der Gesundheitsversorgung zu verbannen.
In die gleiche Richtung gehen die kürzlich veröffentlichten Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). 21 Empfehlungen – etwa zu Halsschmerzen, Antibiotikaverordnung, Hautkrebs – sollen helfen, Überversorgung bei Hausärzten einzudämmen, einige richten sich auch gegen Fälle drohender Unterversorgung.
Marion Grote Westrick / Eckhard Volbracht / Hans-Dieter Nolting u. a., Überversorgung – eine Spurensuche, Hg.: Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2019, 108 Seiten, Download
Uwe Hambrock, Erfahrung mit Überversorgung. Qualitativ-psychologische Studie mit Patienten und Ärzten, Rheingold Institut im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2019, 43 Seiten, Download
DEGAM (Hg.), Schutz vor Über- und Unterversorgung – gemeinsam entscheiden. S2e-Leitlinie Nr. 21, Berlin 2018, 81 Seiten, Download
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