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Unsere komplexe Welt besser verstehen
dtv Verlag 2021, 240 Seiten, 22 Euro
Er ist ein Mann der Zahlen, der auf den ersten Blick schwer einzuordnen ist. Dirk Brockmann (52) leitet als Physiker und Komplexitätswissenschaftler am Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin die Gruppe, die sich mit der Modellierung von Infektionskrankheiten befasst. Zudem lehrt er als Professor am Institut für Biologie der Berliner Humboldt-Universität. Unsere Autorin Maicke Mackerodt hat mit Dirk Brockmann darüber gesprochen, wie sich unsere komplexe Welt besser verstehen lässt und wie man Im Wald vor lauter Bäumen verborgene Muster von Natur und Gesellschaft erkennen kann.
Die These von Dirk Brockmann klingt simpel: Wer verstanden hat, was ökologische Systeme so stabil macht, kann auch ein anderes System besser verstehen. Ganz gleich ob Klimakrise, Corona-Pandemie oder Börsencrash, der Physiker versucht bei solchen komplexen Systemen Gemeinsamkeiten und überraschende Verbindungen zu finden, und zwar über die Grenzen wissenschaftlicher Fächer hinweg.
Sein Credo: Brücken zu schlagen zwischen scheinbar unverwandten Disziplinen wie Biologie, Ökonomie, Politik oder Gesellschaftswissenschaften, also nicht interdisziplinär, sondern antidisziplinär zu arbeiten. Damit ist für Dirk Brockmann keineswegs Disziplinlosigkeit gemeint, sondern der Mut, die Grenzen der alten Disziplinen zu verlassen und „um die Ecke zu denken", dabei auch mal die Vogelperspektive einzunehmen und aus den geknüpften Verbindungen etwas zu lernen.
„Dann lassen sich Regeln erkennen, die komplexen Phänomen zugrunde liegen und sie steuern. So erkennt man letztendlich, dass kooperative Netzwerke viel stabiler, viel robuster und viel adaptiver sind, vor allem, wenn sich die äußeren Bedingungen ändern“, sagt Dirk Brockmann im Skype-Interview mit unserer Autorin. „Darin liegt die Zukunft, dass wir erkennen, dass in kooperativen Systemen viel mehr erreicht werden kann.“ Für den Physiker ist das zwar ein Gegenpol zu dem gesellschaftlichen Narrativ, dass es immer Wettstreit, immer Wachstum geben muss und nur die Stärkeren gewinnen. „Das ist ein sehr unnatürlicher Prozess, der historisch quasi aus einer Fehlinterpretation der Darwin’schen Evolutionstheorie abgelesen worden ist. Letztendlich ist aber Kooperation das typische Merkmal in natürlichen Prozessen.“
Nach dem Physik- und Mathematik-Studium in Göttingen und in den USA wurde Dirk Brockmann an die Northwestern University in Chicago berufen – und machte sich einen Namen mit der wissenschaftlichen Auswertung von Massendaten: 2006 analysierte der Komplexitätsforscher mit Kollegen die geographische Ausbreitung von Millionen von Dollarnoten. Dabei hatte er viel mit Forschenden aus der Biologie, den Sozialwissenschaften oder der Medizin zu tun. 2009 prognostizierte der gebürtige Braunschweiger erfolgreich die Ausbreitung der Grippepandemie in den USA. Dabei ging es Dirk Brockmann darum, Muster zu entschlüsseln, um zu verstehen, welcher Zusammenhang zwischen der Mobilität und der Ausbreitung von Pandemien besteht.
Vor 15 Jahren fing Dirk Brockmann an, sich mit dem weltweiten Flugverkehrsnetz zu beschäftigen. 2014 entwickelte er ein Vorhersagesystem für die Ausbreitung von Epidemien wie Ebola, indem er auf der Grundlage des globalen Luftverkehrs das Importrisiko des Erregers berechnete. Für den Wissenschaftler ist eine Pandemie einerseits ein verhaltenstypisches Phänomen, weil das Virus zur Übertragung soziale Kontakte braucht, und andererseits auch ein biologisches Phänomen. Vor der COVID19-Pandemie legten drei Milliarden Passagiere pro Jahr unfassbare 15 Millionen Flugkilometer pro Tag zurück, und zwar weltweit zwischen 4.000 Flughäfen. Das ist der dreifache Radius unseres Sonnensystems, schreibt der Autor, der sich früh mit solchen komplexen Phänomenen außerhalb der traditionellen Physik beschäftigt hat.
Dabei gab es viel Kritik, dass er als studierter Physiker für das RKI in Berlin die Ausbreitung von Pandemien modelliert und erforscht. Er berechnet mit seinem Team die Wahrscheinlichkeiten, die möglichen Verläufe der Pandemie und wie sich der Corona- Erreger ausbreiten könnte und entwickelt dazu Computermodelle. „Wenn ich etwas zu COVID19 sage, werde ich auch mal angefeindet, aber eher belächelt, vielleicht hier und da nicht ernst genommen, nach dem Motto: Was sagte der zur Pandemie, der ist doch Physiker“, bestätigt Dirk Brockmann. „Interessanterweise, weil es in den Köpfen drin ist, dass nur Expertinnen und Experten mit einem relativ engen Wissenschaftsspektrum etwas zu einem bestimmten Thema sagen können.“ Solche Statements findet der Autor amüsant, weil die gesamte britische Schule der Modellierung von Infektionskrankheiten vor 30 Jahren letztendlich von dem renommierten australischen Biologen und Physiker Bob May und anderen aufgebaut worden sei.
Besonders interessiert hat es den Autor, Strukturen und Prozesse in biologischen und sozialen Netzwerken zu analysieren, nach Gemeinsamkeiten zu forschen und sich von unerwarteten Verbindungen verzaubern zu lassen, wie er es nennt. Dirk Brockmann beschreibt, wie Vogelschwärme mit bis zu 500.000 Staren entstehen, die als Kollektiv mit hoher Geschwindigkeit unterwegs sind, ohne zu kollidieren und ohne dass es einen erkennbaren Anführer gibt. Aus Chaos entsteht Ordnung, diese unfassbare Komplexität sei für ihn magisch, zumal darunter meist ganz einfache Gesetzmäßigkeiten liegen. In der Natur sei jede Tier- und jede Pflanzenart übersät von tausenden Mikroorganismen, mit denen sie zusammenarbeitet, und so faszinieren Dirk Brockmann die symbiotischen Beziehungen der Blattlaus ungemein. „Lange bevor Tyrannosaurus Rex über die Erde gewankt ist, gab es Blattläuse und die haben seit damals eine sogenannte Endosymbiose mit Bakterien“, so der Autor. „Blattläuse haben seit 300 Millionen Jahren ein paar Zellen in sich, in den einige Millionen Bakterien leben, die ihr beim Stoffwechsel helfen.“
Was den Komplexitätswissenschaftler begeistert: Dass so eine erfolgreiche Kooperation zwischen zwei Organismen bereits 300 Millionen Jahre andauert, während es erst ungefähr 600 Millionen Jahre überhaupt komplexes, also multizelluläres Leben gibt. Und was genau ist daran so besonders? „Dass sich ein Link gebildet hat, der alles Mögliche überstanden hat“, genau das ist für Dirk Brockmann ein Beleg, „dass kooperative Elemente extrem stabil und extrem erfolgreich sind“. Daraus könne man von der Blattlaus lernen, „wie man gesellschaftliche Probleme angehen kann“.
Zu den Konzepten, die dabei helfen, die komplexe Welt besser zu verstehen, gehören für den Autor Koordination, kollektives Verhalten, komplexe Netzwerke und auch Kipppunkte. Der Vater von vier Kindern hat Verständnis dafür, dass viele Menschen eine so komplizierte und elementare Gefahr wie die Klimakrise einfach ignorieren. „Genau das ist das Gefährliche, dass in so einer Kipppunktdynamik, die in der Klimaforschung eine große Rolle spielen, es eben kein Zurück mehr gibt.“
Was damit gemeint ist? „Wenn diese Grenzwerte überschritten werden und das System gekippt ist, kann man den Faktor, der das ausgelöst hat, nicht mehr zurückdrehen.“ Kocht man ein Ei, wird es hart, dreht man das Wasser wieder kalt, wird es nicht wieder roh, erläutert Dirk Brockmann, „dann ist es zu spät“. Seiner Meinung nach müsse intensiv ganz kommuniziert werden, dass es sehr viele Phänomene in der Natur gibt, die kurz vor dem Kipppunkt stehen. Den Familienvater besorgt sehr stark, dass viele in der jungen Generation schon aufgegeben haben und nur noch Spaß haben wollen, bis es vorbei ist. „Das ist ein fatalistischer Ansatz, vor dem ich große Angst habe. Aber wenn wir die Erde über den Kipppunkt fahren, ist das ja der einzig sinnvolle Weg für die nächste Generation so zu agieren.“
Dirk Brockmann geht es immer auch darum, das Bewusstsein für die menschengemachte Klimakrise zu schärfen. Beinah gebetsmühlenartig weist er darauf hin, „dass es in der Natur keine Phänomene gibt, die dauerhaft auf Wachstum ausgerichtet sind“. Dennoch seien diese Ökosysteme extrem robust, extrem stabil, bis sie zu stark belastet werden und kollabieren. Ein wichtiger Ideengeber könnte seiner Meinung nach die Biosphäre sein, „ein Ding, das die Welt umspannt und seit Milliarden von Jahren funktioniert“. Für den Komplexitätswissenschaftler zeigt die Biosphäre „alle Rezepte, wie wir etwas bauen können, was robust, stabil und adaptiv und flexibel ist“. Warum nicht gucken, wie funktioniert das und aus der Natur für die Gesellschaft lernen, fragt Dirk Brockmann. Seine Idee: „Wir bauen Flugzeuge, die den Vögeln nachgebaut sind. Man könnte auch von der Biosphäre für die gesellschaftliche Stabilität lernen und solche nachhaltigen Systeme bauen.“
Komplexe Systeme zu verstehen, das ist per se eine Herausforderung. Im Wald vor lauter Bäumen liefert eine gut ausgestattete Werkzeugkiste, die mit Zeichnungen, Netzwerkskizzen und unterhaltsamen Alltagsgeschichten versucht, abstrakte Themen griffig zusammenzufassen. Der Komplexitätswissenschaftler ermutigt, antidisziplinär zu denken, wichtige Mechanismen zu identifizieren und anstatt sich in Details zu verlieren, andere Perspektiven einzunehmen und zu versuchen zu verstehen, wie alles mit allem zusammenhängt. Sein Fazit: Um die Krisen unserer Zeit zu bewältigen, müssen wir nicht nur interdisziplinär, sondern über die engen Grenzen verschiedener Disziplinen hinweg auch antidisziplinär denken und auf das fundamentale Prinzip der Natur setzen: Kooperation.
Weiterführende Links:
www.ndr.de/fernsehen/sendungen/das/Norddeutschland-und-die-Welt,sendung1186016.html
(abgerufen am 09.11.2021)
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