Suche
Agilität ist das neue Modewort der Firmenkultur, agiles Management gilt als Wundermittel erfolgreicher Unternehmen. Dahinter steckt eine verheißungsvolle Formel: Flache Hierarchie plus flexible Arbeit ist gleich weniger Chef, mehr Motivation und viel Erfolg. Praxisbeispiele finden sich bei Start-ups und Unternehmensgrößen wie Audi, Tesla, Google und Deutsche Bahn. Doch können auch mittelständische Firmen von agilen Organisationsformen profitieren? Kommt drauf an, argumentiert eine neue Studie des Fraunhofer IPA. Wenn die Voraussetzungen stimmen, hat Agilität klare Vorteile gegenüber hierarchischen Strukturen.
Die agile Arbeitsform entstand vor 20 Jahren in der Softwareentwicklung. Sie antwortet auf tiefgreifende Veränderungen in der Wirtschaft, die durch disruptive Innovationen, kurze Produktlebenszyklen und steigende Kundenanforderungen gekennzeichnet sind. Für Unternehmen mit hierarchischen und bürokratischen Routinen ist diese Marktdynamik eine echte Herausforderung. Demgegenüber werden agile Arbeitsabläufe oft als Lösung gepriesen: mit Beschäftigten, die eigenverantwortlich in kleinen Teams über Abteilungsgrenzen hinweg spontan, flexibel und kundenorientiert arbeiten.
Untersuchungen zufolge haben agil arbeitende Unternehmen eine fünfmal so hohe Wahrscheinlichkeit, überdurchschnittliche Renditen und Wachstumsraten zu erzielen und sind im Mittel 2,7-mal erfolgreicher als nicht agil arbeitende Firmen. Die Markteinführung neuer Produkte (Time to Market) erfolgt fast doppelt so schnell, die Entwicklungszeit halbiert sich. Zugleich ist die Mitarbeiterzufriedenheit doppelt so hoch.
„Die Entscheidung für oder gegen die agile Organisation sollte von der Wettbewerbssituation am Markt und den Zielvorgaben abhängig gemacht werden“, sagt Joachim Heidelbach, Mitautor der Studie. „Für effizienzorientierte Bereiche mit standardisierten Prozessen haben sich hierarchische Strukturen bewährt. Stehen dagegen Innovation, Kreativität und enger Kundenkontakt im Vordergrund oder sind Prozesse stark wechselhaft, eignen sich agile Organisationsformen.“ Ein Unternehmen oder Geschäftsfeld muss dabei nicht vollständig agil oder hierarchisch organisiert sein, sondern kann sich beider Elemente bedienen, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen.
Gerade wo sich Geschäftsmodelle schnell ändern, kommt agiles Arbeiten in Betracht. In der Automobilindustrie mit ihrem hohen Veränderungsdruck lässt sich das exemplarisch erläutern. Die herkömmliche Entwicklung neuer Fahrzeuge durchläuft einen starren, mehrjährigen Prozess über mehrere Abteilungen und Entscheidungsebenen hinweg. Das amerikanische Technologieunternehmen Tesla hingegen revolutioniert die Branche durch agile Entwicklungsschritte, bei denen Kundenpräferenzen regelmäßig ausgewertet und per Softwareupdates implementiert werden. Inzwischen greifen auch die deutschen Hersteller dieses Prinzip in einzelnen Unternehmensbereichen auf und entwickeln digitale Produkte auf Basis agiler Prozesse.
Kleine und mittelständische Unternehmen weisen kein so differenziertes Produktportfolio auf wie ein Konzern, sind also auch anfälliger für plötzliche Marktveränderungen. Als Beispiel für eine überlebenssichernde Veränderung der gesamten internen Organisation nennt die Studie das Familienunternehmen Heermann Maschinenbau GmbH (Hema) bei Stuttgart. Die Verantwortung wurde von Führungskräften auf Teams übertragen, Planung und Steuerung an gemeinsamen Zielen ausgerichtet. „Das Commitment der gesamten Organisation hat dazu geführt, dass die Transformation auf allen Hierarchieebenen bis hin zu den operativen Einheiten mitgetragen sowie aktiv umgesetzt wurde und die agilen Strukturen so effizient und nachhaltig implementiert werden konnten.“
Damit ist eine entscheidende Voraussetzung bereits angesprochen: hohe Veränderungsbereitschaft der Belegschaft. Die Mitarbeitenden müssen von Anfang eingebunden, Leitbild und Ziele deutlich gemacht werden. „Auf die innere Einstellung, das Mindset kommt es an.“ Agilität ist zum Scheitern verurteilt, wenn Führungskräfte nicht bereit sind, Entscheidungsbefugnisse abzugeben und wenn die Beschäftigten nicht willens sind, mehr Verantwortung zu schultern. Nicht jeder kann oder will solche Rollenwechsel mittragen. Vor allem auf der mittleren Führungsebene besteht oft Angst vor Herabstufung oder Arbeitsplatzverlust, Mitarbeiter büßen Sicherheit und Bequemlichkeit ein. Daher rührt auch, dass das in der Theorie so überzeugende Agilitätskonzept bei der Umstellung in die Unternehmenspraxis oft erst einmal gewaltige Probleme bereitet. Manche Unternehmen haben entsprechende Veränderungsprozesse daher auch schon wieder zurückgenommen.
Solche ernüchternden Einwände rechtfertigen nicht, Agilität als schnelllebige Mode findiger Unternehmensberater abzutun, wie manche Kritiker das tun. Mehr Selbstorganisation, weniger Kontrolle von oben nach unten, diese Charakteristika prägen sämtliche Konzepte neuer Arbeit. Davon zeugt auch die Diskussion rund um Home Office und mobiles Arbeiten, die aktuell durch Corona einen kräftigen Schub erhält. „Agilität wird die Unternehmen deshalb auf Dauer verändern, auch wenn das Wort in ein paar Jahren vielleicht verbrannt ist“, urteilt in Ayelt Komus, Wirtschaftswissenschaftler an der Hochschule Koblenz.
Joachim Heidelbach, u. a., Agile Organisation: Die beste Organisationsform? Orientierung und Handlungsempfehlungen für den industriellen Mittelstand, Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA), Stuttgart 2020, 34 Seiten, Download
Arbeitswelt: Gelähmt vor lauter Beweglichkeit, in: sueddeutsche.de vom 22.8.2019 (abgerufen 17.9.2020)
Agilität: Konflikt mit der neuen Rolle. Interview mit Professor Ayelt Komus, in: sueddeutsche.de vom 11.5.2019 (abgerufen 17.9.2020)
Methoden der Zusammenarbeit: Wenn Mitarbeiter gleichzeitig Chefs sind, in: wiwo.de (Wirtschaftswoche) vom 26.10.2016 (abgerufen 17.9.2020)
Pflege
Was tun gegen psychischen Stress in schweren Zeiten?
Arbeitswelt
Heute Chef, morgen Mitarbeiter – Hauptsache agil
Gesellschaft
„Am liebsten ein Einfamilienhaus irgendwo auf dem Dorf“
Bildung
Brennglas Corona – Lehren aus dem digitalen Kaltstart
Digitalisierung
Achter Altersbericht: Problem erkannt, noch nicht gebannt
Klimawandel
Grüne Flächen braucht die Stadt
Buchempfehlung
Dirk Gratzel: Projekt Green Zero
Susanne Bauer
Senior Referentin Unternehmenskommunikation
Konrad-Adenauer-Ufer 85
50668 Köln
T 0221 97356-237
F 0221 97356-477
E-Mail