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Kann am schwedischen oder japanischen Wesen das deutsche Pflegesystem genesen? Seit Langem brüten Experten hierzulande darüber, wie die Pflege aus der Intensivstation herauskommt. Da kann es nicht schaden, über den deutschen Tellerrand zu schauen. Eine Studie der Hans-Böckler-Studie wagt den Fernblick und vergleicht die Arbeits- und Beschäftigungssituation in Deutschland, Schweden und Japan in der Langzeitpflege.
Die spezifischen Stärken und Schwächen der Pflegesysteme dort können die Suche nach praxistauglichen Lösungsansätzen hierzulande beflügeln. Beispiele können kaum deckungsgleich übernommen werden, machen aber deutlich, wo Probleme liegen und dass sie lösbar sind. Schweden zehrt von seinem guten Ruf als Wohlfahrtsstaat, Japan leidet unter rapider Überalterung – Aspekte, die uns hier in Deutschland nicht unbekannt sind.
Gemeinsam ist den drei Ländern ein System staatlicher Absicherung des Pflegerisikos für die Gesamtbevölkerung. Weiterhin, so Studienautorin Prof. Hildegard Theobald, haben die Länder in ihr Pflegesystem in den vergangenen Jahren verstärkt marktorientierte Impulse eingebracht, etwa mit der Einführung von Managementmethoden aus der Privatwirtschaft, mehr Konkurrenz zwischen den Anbietern, mehr echte Preissteuerung und mehr Restriktionen bei der öffentlichen Finanzierung.
Aus ihrer umfangreichen Analyse der Pflegesysteme in den drei Ländern – die hier nicht nachgezeichnet werden soll – leitet Studienautorin Theobald Handlungsempfehlungen für die Altenpflege in Deutschland ab. Die wichtigsten Anregungen sehen wie folgt aus.
Die drei Länder schreiben eine zwei- bis dreijährige Berufsausbildung in der Alten- und Krankenpflege vor. In der ambulanten Pflege ist Deutschland mit einem Anteil von 53 Prozent ausgebildeter Fachkräfte top, gefolgt von Japan (51 %) und Schweden (45 %). In der stationären Pflege haben die Japaner die Nase vorn (78 %), gefolgt von Schweden (65 %) und – deutlich abgeschlagen – Deutschland (33 %). Allerdings erlauben die formellen Abschlüsse nur begrenzte Qualitätsaussagen. Nach Einschätzung der Studienautorin liegt für die japanische Altenpflege generell nur eine „begrenzte Professionalisierung“ vor.
Was ist zu tun? Der hohe Grad der nicht nur formal verbrieften, sondern fachlich fundierten Professionalisierung in Schweden könnte auch hierzulande Vorbild für die Qualifizierung aller Pflegekräfte sein. Die Studie weist auf die „entscheidende Rolle in der Umsetzung“ hin – die berufsbegleitende Ausbildung in Schweden.
Alle drei Länder verfügen im ambulanten Bereich über einen hohen Anteil an Teilzeitbeschäftigung (Deutschland: über 70 %; Japan und Schweden: 60 %,). Entsprechend verbreitet sind prekäre Beschäftigungsformen wie Minijobs und stundenweise Beschäftigung (Deutschland: ca. 20 %, Schweden: 15 % bei öffentlichen und 34 % bei privaten Anbietern). Mehr Vollzeit gibt es in der stationären Pflege: (Deutschland: 40 %, Schweden: 50 %, Japan 93 %).
Was ist zu tun? Die Studie empfiehlt ein ganzes Maßnahmenbündel zur Überwindung des Fachkräfteengpasses: mehr Qualifizierung der Beschäftigten, bessere sozialrechtliche Absicherung von Teilzeitarrangements, flexible Vollzeittätigkeiten und Ausbau einer zeitlich umfassenden und bezahlbaren Kinderbetreuung.
In Japan arbeiten nur wenige Pflegekräfte mit Migrationshintergrund (0,5 %). Angesichts der Skepsis gegenüber Immigration bildete sich in Japan ein alternatives Modell der Fachkräfterekrutierung heraus: Vor allem in der stationären Pflege arbeiten zunehmend Männer (35 %). Als wichtiger Grund gilt, dass es in diesem Bereich fast nur Vollzeitstellen gibt.
Hinzu kommt das geschlechtsspezifische Rollenbild der Pflege im Land der aufgehenden Sonne: Während die ambulante Versorgung mit ihrem hohen Anteil an Hausarbeit weiterhin Frauendomäne ist (90 %), gilt die stationäre Pflegearbeit wegen der körperlichen Belastung als respektable männliche Tätigkeit.
Was ist zu tun? Das Beispiel ist zum Teil unauflöslich in der japanischen Kultur verankert, zeigt aber anhand der hohen Zahl von Vollzeitstellen im stationären Bereich, dass der Pflegeberuf auch für Männer attraktiv sein kann.
Die Arbeitsbelastung ist in allen drei Ländern groß, in Deutschland am größten: Von regelmäßigem Zeitdruck hierzulande berichten im ambulanten Bereich 54 Prozent der Pflegekräfte (Schweden: 37 %, Japan: 35 %), im stationären Bereich von 73 Prozent (Japan: 53 %, Schweden: 40 %). Hinzu kommen reichlich Überstunden (Deutschland: 52 %, Japan: 28 %, Schweden: 13 %).
Was ist zu tun? Um den hierzulande auffällig hohen Zeitdruck auf im Arbeitsalltag anzugehen, empfiehlt die Studie eine erhebliche Personalaufstockung. Das Problem verweise auf die grundsätzliche Schieflage der professionellen Pflege hierzulande im Schnittpunkt von öffentlichem Sparzwang, wirtschaftlichem Effizienzstreben und der Konkurrenz auf dem Pflegemarkt, argumentiert die Autorin.
Deutschland und Schweden weisen jeweils einen Pflegekräfteanteil von 14 Prozent mit migrantischem Hintergrund im stationären Bereich und von 11 Prozent im ambulanten Sektor auf. Benachteiligung ist hierzulande nicht selten: 41 Prozent der Migranten machen unbezahlten Überstunden, aber lediglich 18 Prozent der anderen Beschäftigten. Zudem erfahren Migranten weniger Wertschätzung von den Familien und Vorgesetzten, 15 Prozent registrieren ausländerfeindliche Kommentare.
Was ist zu tun? Gesetzgeber und Berufsverbände müssten der „besonders prekären Beschäftigungssituation“ von ungelernten Pflegekräften mit Migrationshintergrund zu Leibe rücken: durch ein rechtlich gesichertes Anerkennungsverfahren und flexiblen Zugang zu beruflicher Qualifikation. Betriebliche Personalpolitik ist gefordert, der Benachteiligung insbesondere von ungelernten Beschäftigten mit Migrationsbiografie entgegenzuwirken. Dies betreffe etwa die Zusammenarbeit im Kollegenkreis, die Verteilung von Arbeitsaufgaben und die Interaktion mit Pflegebedürftigen und Angehörigen.
Hildegard Theobald, unter Mitarbeit von Holger Andreas Leidig, Pflegearbeit in Deutschland, Japan und Schweden. Wie werden Pflegekräfte mit Migrationshintergrund und Männer in die Pflegearbeit einbezogen?, Studie der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 383/2018, 84 Seiten, Download.
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